Zwei Welten
Zur Eröffnung: Goldonis »Diener zweier Herren«
Ein Stück an der Schwelle. Die Traditionen der Commedia dell’arte stecken noch tief drin in dem am Rande des Wahnsinns balancierenden Verwechslungsspiels um zwei junge Liebespaare, die unsanft auseinandergerissen werden. Schließlich war es der venezianische Schauspieler Antonio Sacchi, der Mitte des 18. Jahrhunderts den Anstoß zu Carlo Goldonis Komödie gab. So hat sein Landsmann dem damals berühmtesten Arlecchino-Darsteller die Rolle des Dieners, der überhaupt nur durch einen zweiten Herrn überleben kann, auf den Leib geschrieben. Dennoch ist »Der Diener zweier Herren« schon von Neuem erfüllt. Die Figuren, die Truffaldino im steten Kampf um sein Brot in die Irre lenkt, brechen aus den Schablonen der Commedia dell’arte aus, sind komplexer als ihre holzschnittartigen Vorbilder. Aus Archetypen werden Charaktere. Zwischen unbändigem Volkstheater und feiner Charakterkomödie, Aufruhr und Amüsement könnte somit die Eröffnungs-Inszenierung stehen. Das verspricht zumindest Regisseur Christian Stückl, dessen Theater in Direktheit und Spielfreude durchaus den Geist der Commedia dell’arte fortführt. (SAW)
Koproduktion mit dem Burgtheater Wien; Premiere: 3. Mai, Vorstellungen: 4. bis 7. Mai
Die Illusion der Freiheit
»Das Leben ein Traum. Calderón«
Am Ende triumphiert das christliche Ideal. Sein freier Wille rettet den Königssohn Sigismund, den sein Vater gleich nach der Geburt in einen Turm sperren ließ; er überwindet Wut und Hass. Das Horoskop erfüllt sich nicht. Es ist vielleicht das zauberischste aller glücklichen Enden, das der Ritter, Hofdichter und Kaplan Calderón de la Barca dem Theater schenkte: »Wenig kann das Glück uns geben: Denn ein Traum ist alles Leben und die Träume selbst ein Traum.« Gut 300 Jahre später, in Pier Paolo Pasolinis Überschreibung von de la Barcas Traum-Theater, hat das christliche Ideal Risse bekommen. Und auch die sozialistische Utopie ist zerbröckelt. Nun ist es Rosaura, die hier Sigismund zu ihrem Instrument der Rache machen will, die ›träumt‹. Dreimal erwacht sie: in einem Palast, einem Bordell, einem Lager. So durchlebt sie die aristokratische, bürgerliche und proletarische Welt. Eines ist ihnen gemeinsam. Der freie Wille bleibt Illusion, die Realität heißt Konsum. Mit der Verschränkung dieser Stücke führen Frank Hoffmann und sein Ensemble, zu dem mit Wolfram Koch, Dominique Horwitz und Jacqueline Macaulay Stammgäste in Recklinghausen gehören, Pasolinis »Calderón« zu den Wurzeln. Die düsteren Visionen Pasolinis treffen auf die Demuts-Fantasien von de la Barca. Plötzlich ist doch wieder alles eine Frage freien Willens. (SAW)
10. bis 14. Mai
Zu Kreuze kriechen
Houellebecqs »Unterwerfung« mit Edgar Selge
Mit symbolischer Übertragungslust und etwas Metaphern-Mogelei kann man sagen: was für ein grandioses Zu-Kreuze-Kriechen. In einem enormen Kraftakt klettert, turnt und kämpft sich Edgar Selge an der von Olaf Altmann konstruierten Wand des Eisernen Vorhangs ab, in dessen Fläche die Hoch- und Querstreben der Kreuzesform ausgeschnitten sind. Eine Leerstelle, hoch aufgeladen mit Bedeutung. Denn Michel Houellebecqs jüngster Roman »Unterwerfung« – eine schockgefrorene perfide Polemik – beschreibt als Menetekel die Kapitulation der christlichen, aber säkularen westlichen Demokratie vor einem charismatischen islamischen Politik-Propheten, der legal Präsident wird und die laizistische französische Republik in einen religiösen Staat im Namen Allahs umformt. Zeuge dieser passivisch in Angstlust akzeptierten Revolution des Jahres 2022 ist der Literatur-Professor François – uns wohl vertraut als einer der in ihrem mittleren Alter und Mittelmaß befangenen, die eigene Tatenlosigkeit zelebrierenden, an ihrer Männlichkeit leidenden, in ihren Selbsthass verliebten, zynisch bis melancholischen, fatalistischen Antihelden Houellebecqs, denen der Sinn abhanden gekommen und durch maue Sinnlichkeit ersetzt worden ist. Ein zweieinhalbstündiges Performance-Solo der Sonderklasse, das die mangelnde Motivation des Monsieur François Lügen straft. Der seine Charaktermasken zur Schau stellende Selge arbeitet sich heroisch ab an den Widrigkeiten der nahen Zukunft und an den sich ihm widerstandslos ergebenden Gegenspielern von Text-Masse, Bühnen-Massiv, Regie (Karin Beier) und dem begeistert einknickenden Publikum. ( AWI)
Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg: 27., 28., 30. Mai
Zwischen Argos und Berlin
Aischylos / Jelinek: »Die Schutzflehenden / Die Schutzbefohlenen«
Der Merkspruch ist ein Merkel-Spruch: »Du bist die Stadt. Du bist das Volk.« So flehen die aus Ägypten geflüchteten Enkelinnen der Io, um Aufenthalt zu erhalten in Argos. Der Satz geht weiter: »Er schützt Fremde und verdarb dadurch sein Land.« Was dem König von Argos angelastet wird, bedroht als Vorwurf immer noch auch die Bundeskanzlerin. So weit zur Aktualität der Flüchtlings-Bewegungen. Der erste, knapp die Hälfte des Abends umfassende Teil der von Enrico Lübbe verantworteten Aufführung inszeniert – antikisierend auf Kothurnen und mit Masken – die klassische Tragödie. Dann folgt der Auf-Bruch. Die Kleider werden abgelegt – ebenso wie die mythische Vorgeschichte, und ein uniformierter Jelinek-Chor ersetzt das Aischylos-Personal. Das ist, bis hierher, gut und eindringlich gelöst. Dass die Figuren Abbilder der Autorin und Nobelpreisträgerin sind, befreit aus dem Dilemma, womöglich ‚authentische’ Flüchtlinge auf die Bühne zu holen. Durch die Maskerade entsteht ein sinniger V-Effekt. Das hält eine schöne Strenge und Dichte, bevor die Comedy durchschlägt und der Abend seine Façon verliert – mit sprechenden Hot-Dog-Brezeln, Howard Carpendale, Anna Netrebko in der Wanne und krachender Russen-Disco. Schade um die banale Eintrübung. (AWI)
Gastspiel Schauspiel Leipzig: 24. und 25. Mai
Mythos und Maschine
Castelluccis »Orestie« nach Aischylos
Theater der Extreme: tiefes Dunkel und gleißende Helligkeit, Schwarz und Weiß, Mythen und Maschinen. Von Aischylos’ Tragödien-Trilogie, die am Anfang der griechisch-römischen Kultur steht, bleiben nur Bruchstücke übrig. Dazwischen lagern sich Spuren anderer Geschichten ab: Alice im Racheland. An ein neues Zeitalter der Gerechtigkeit kann der italienische Theatermacher Romeo Castellucci nicht glauben. Der Urteilsspruch am Ende der »Orestie« ist auch nur Willkür. Der ewige Blutfluss muss zumindest für eine gewisse Zeit gestoppt werden. 1995 hat Castellucci den Zyklus von Schuld und Rache, Kindesopfer und Muttermord schon als bildgewaltige Performance in Szene gesetzt. Er kehrt er zu dem Stoff und seiner Inszenierung zurück als Wieder-Holung: aber um es neu und anders zu machen. Wie der Mythos fallen auch Castelluccis Bilder aus der Zeit. Vergangenheit und Zukunft werden eins in einem Raum, archaisch und modern zugleich. Seltsame Maschinen, die aus der Ära der Industrialisierung stammen könnten, umgeben Menschen, die sich seit Anbeginn nicht verändert haben. Die Welt ist ein Schreckenshaus, vielleicht »ein Bunker nach dem dritten Weltkrieg« (Heiner Müller). Castelluccis Theater-Bilder sind – wie Gemälde von Hieronymus Bosch und Pieter Breughel dem Jüngeren – Visionen der Hölle, Beschwörungen des Grotesken und Grausamen. Sie verstören, aber haben auch etwas Reinigendes. Katharsis durch einen Blick in den Abgrund. (SAW)
Deutschlandpremiere: 19. Mai, Vorstellungen: 20. & 21. Mai