Text Nicole Strecker
Seit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ausdruckstänzer den Monte Verità erklommen, um Mary Wigmans Predigt zu lauschen, spätestens seitdem sind spirituelle Erweckungserlebnisse aus dem Bühnentanz nicht mehr wegzudenken. Tänzerische Selbsthingabe lässt die Faktizität der Welt überschreiten. John Neumeier, Sidi Larbi Cherkaoui, Akram Khan – kaum ein Choreograf, der nicht für die höhere Wahrheit arbeitet, selbst eine top-analytische Strukturalistin wie Anne Teresa de Keersmaeker beruft sich auf die chinesische Kosmoslehre I Ging. Jetzt tanzt auch ein Mitglied der einst trieb- und instinktbegeisterten, rockigen Wim-Vandekeybus-Familie auf dem Pfad der Tanz-Erleuchtung:
Simone Sandroni, seit dieser Spielzeit Tanzchef in Bielefeld als Nachfolger von Gregor Zöllig und einst Gründungsmitglied der belgischen Starkompanie Ultima Vez.
Ihn interessiert neuerdings der Mensch als Kreatur zwischen hochfliegendem Geist und bodenständigem Körper, also »Zwischen Himmel und Erde«, wie sein Stück heißt. Es sei eine neue Phase in seinem Leben, sagt Sandroni, aber spirituell sei er stets gewesen. Haydns »Sieben letzte Worte unseres Erlösers am Kreuze«, Alfred Schnittkes Klavierquintett von 1976 und schließlich Pergolesis »Stabat Mater«, live gespielt von den Bielefelder Philharmonikern: Sie sind der Soundteppich für Sandronis Tanz um zwei menschliche Qualfragen: Was lasse ich auf der Erde zurück? und: Was kommt danach?
Das Christentum, auf das sich die Kompositionen teilweise beziehen, hätte darauf ja tröstliche Antworten. Doch der Italiener Sandroni will nichts vom Katholizismus wissen. »Vieles von unserem kulturellen Erbe wird als religiöse Kunst eingeordnet, weil die Kirche Auftraggeber war. Die Fresken in der Sixtinischen Kapelle von Michelangelo etwa, aber Michelangelo war gar nicht katholisch. Die Qualität dieser Kunst, Gemälde und Kompositionen, liegt nicht in ihrem christlichen Ursprung, sondern in ihrer berührenden Kraft: einer Spiritualität.«
Andere, sagt Sandroni, wie sein Landsmann Romeo Castellucci, würden ein Statement gegen die Vereinnahmung der Kunst durch Religion inszenieren, um die Verhältnisse säkular zurecht zu rücken: Kunst als kontextlos mystische Kraft. Aber Rebellenposen interessieren Sandroni nicht mehr, ja, vielleicht war er nie der punkige Outlaw, für den man ihn wegen seiner Begeisterung, prosaische Objekte wie Backsteine durch die Luft zu schleudern, und wegen des kraftstrotzenden Körpers hielt. »Ich bin Proletarier«, definiert sich der Autodidakt zwar noch immer, aber Proletarier durch Geburt, nicht durch antibürgerliche Überzeugung. Aufgewachsen ist er in einer Familie aus Köchen und Kellnern in der italienischen Hafenstadt Ancona, was – symptomatisch für die Kämpfer-Biografie – übersetzt »Ellbogen« bedeutet.
Er besuchte ein Gymnasium mit Schwerpunkt Bildhauerei, ging abends ins Martial-Arts-Studio, trainierte Judo und Karate. Später begeistert er sich fürs Theater, improvisiert dort als Techniker, kommt 1987 nach Brüssel. »Als wir mit Ultima Vez starteten, war überhaupt nicht klar, ob wir Tanz oder Theater machen wollten. Wir haben uns mit Katastrophen, Gewalt, Gefahrensituationen beschäftigt, ich konnte ja auch vor allem springen, rollen, fallen.«
Am Ende entsteht »What The Body Does Not Remember« und eine tollkühn-brachiale Attacken-Ästhetik, die die Tanzwelt revolutioniert. Anders als sein damaliger Kompaniechef Wim Vandekeybus, der mit Sarkasmus und Schmerz heftig gegen die Zivilisationsschichten hämmert, bleibt Sandroni unbeirrbarer Idealist, ohne Furcht vor der Banalität des Guten. Eine Haltung, mit der der 28 Jahre lang vagabundierende Choreograf nun höchst erfolgreich in einen Lebensabschnitt als sesshafter Stadttheater-Chef gestartet ist. So überrumpelte sein erster Bielefelder Abend das Publikum mit wilder Begeisterung für die Kompanie und die Tanzkunst. Jetzt folgt nach der Ekstase die Einkehr.
Sandronis neues Stück sei zwar, wie der End-Vierziger zugibt, »eine Reaktion auf die aggressiven, gewaltsamen und autoritären Vorstellungen von Gott«. Aber es gehe ihm nicht um Kritik, nicht um die hysterisch debattierte Frage von der Vereinbarkeit von Religion und säkularen Gesellschaften. Sondern um die Schönheit, Zärtlichkeit und Sinnlichkeit der Spiritualität. Er will das Licht inszenieren, als wäre es ein Rembrandt-Gemälde. Er hat sich von Tintorettos »Abendmahl« inspirieren lassen, auf dem sich der Rauch aus Öllampen zu Engelsgestalten kräuselt und er will diese Durchdringung von Irdischem und Göttlichem auch im Tanz: leicht und zart soll es sein, in die Vertikale streben; Füße, die kaum den Boden berühren. Vom furchtlosen Kombattanten zum ätherischen Ariel läuft die Entwicklung Sandronis, der dabei ruppiger Philanthrop bleibt.
Uraufführung »Zwischen Himmel und Erde«: Theater Bielefeld am 8. April 2016, weitere Termine am 10., 16. und 28. April sowie im Mai, Juni und Juli.