Text Andreas Wilink
Es gibt eine zweite berühmte »Methode« neben der einen legendären von Lee Strasberg an seinem New Yorker Schauspiel-Studio, zu dessen Absolventen Marilyn Monroe, Marlon Brando, Montgomery Clift und James Dean gehörten. Parallel zum »method acting« könnte man die andere »method dancing« nennen. Pina Bausch hat sie für sich und ihre Compagnie entwickelt und erstmals angewendet in ihrer »Macbeth«-Adaption. Unter dem Titel »Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen« entstand der Abend 1978, übrigens in Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum von Peter Zadek.
Eingehend dokumentiert in Wort und Bild ist dieser Urknall für den Bausch-Kosmos in der Bundeskunsthalle Bonn, die sich für »Pina Bausch und das Tanztheater« öffnet. »Die Form ist ganz von selber entstanden«, wird Pina Bausch später, 2007, in ihrer Kyoto-Preisrede sagen, in der sie ausführlich aus dem Fundus ihrer Kindheit schöpft. Die Methode besteht darin, für eine Choreografie eine Materialsammlung anzulegen, die sich durch Fragen und Aufgaben an die Tanzenden ergibt, die aus Stichworten Situationen, aus Erinnerungen, Erlebnissen und Fantasien Bewegtes macht.
Autobiografie ist’s immer – und wird im Prozess des Montierens und Collagierens Gestaltung. Gestaltete Intuition. In den in Vitrinen ausgebreiteten Papieren und Aufzeichnungen Bauschs für das, was am Ende das Regiebuch ist, lesen wir etwa unter der Position Nr. 33 »Heile heile Gänschen«. Es geht in Pina Bauschs aus Ruhe und Geduld Kraft ziehender Kunst auch um schmerzlindernde Maßnahmen. Zu jedem Stück gibt es einen solchen Produktionsordner, aufbewahrt im Wuppertaler Bausch-Archiv.
Wenn man den weiten Ausstellungsraum betritt, sieht man sich vis à vis der abgehobenen Pina Bausch gegenüber. Auf einer Riesenleinwand scheint sie im Solo von »Danzón« (1995) tanzend abzutauchen, meditativ zu schweben, zu gleiten im Bühnenbild einer Unterwasserwelt mit sachte schwimmenden Fischen aller Art. Das Meer in ihr. Theater in Trance.
Das Konzept der von Sohn Salomon Bausch, Miriam Lysner und Rein Wolfs kuratierten Schau orientiert sich an sechs Aspekten des Bausch-Tanztheaters, die sie gewissermaßen vorgegeben hat: die Tänzerin, die Arbeitsweise, die Bühne, die Koproduktionen, das Ensemble, die Stücke lassen sich in einem offenen Parcours erleben.
Umgeben von sechs Monitoren kann man im »Café Müller« Platz nehmen an Tischen und Stühlen. Der Besucher aber wird sich vermutlich kaum trauen, die Caféhausstühle umzuwerfen, wie es in der zur Musik von Henry Purcell 1978 zur Uraufführung gebrachten Choreografie geschieht. Wie alles beginnt: Da ist zunächst das Kriegs- und Nachkriegskind aus Solingen, die sehr junge Tänzerin, die an der Folkwangschule bei Kurt Jooss studiert, die 1960 als 18-Jährige mit einem Stipendium nach New York an die Juilliard School geht, lernt, auftritt, sich ausprobiert, und die 1962 zurückkehrt nach Essen. »Vielleicht ist für mich viel mehr Tanz da, als man denkt«, räsoniert sie 1990, als sie sich nach anfänglichen Kämpfen längst als Weltautorität behauptet hat.
Auf frühen Fotos von Proben und Vorstellungen, die sich in Fülle neben Plakaten, Programmzetteln und weiteren Zeugnissen zur manchmal auch devotionalienhaften Zettelwirtschaft summieren, sieht sie aus wie eine Audrey Hepburn oder Christine Kaufmann, mädchenhaft und zart. Bevor sie sich jazzig expressiv häutet, eine Brecht’sche Callas des Tanzes und schließlich die asketische, priesterliche Kaiserin von Wuppertal in den schwarzen Anzugs-Gewändern von Yamamoto wird. Eine Ikone der Kunst, wie neben ihr nur wenige andere im 20. Jahrhundert, die Garbo, die Dietrich, Chaplin. Ein paar Striche genügten, um sie zu skizzieren.
1968 heißt eine kleine Choreografie nach dem Gedicht von William Wordsworth »I wandered lonely as a cloud«. Schon damals scheint die Wolken-Wanderin Pina Bausch sich zu entrücken, so gar nicht wirklichkeitsscheu und so menschennah ihre Arbeiten doch sein werden. Aber Traummaterial ist es eben auch.
1973 betraut Arno Wüstenhöfer Pina Bausch mit der Leitung des Balletts der Wuppertaler Bühnen. Mittelpunkt der Ausstellung ist die imponierend gelungene Rekonstruktion des Probensaals im alten Lichtburg-Kino im Wuppertaler Kiez, Original fünfziger Jahre mit gesteppten und gepolsterten Balkon- und Bühnen-Brüstungen und den typischen Wandlampen. Spiegel stehen da und Übungsstangen, ein Klavier, Kleider und Kostüme hängen an Bügeln. Und der Arbeitstisch der Prinzipalin mit Aschenbecker fürs Zigarettchen, der Brille, dem Schreibblock. Ihr »Guck«-Kasten. Auf der Bühne läuft ein Film mit der ins kollektive Gedächtnis eingegangenen »Nelken«-Reihe der Tänzerinnen und Tänzer. (Wer will, kann sich bei kurzen Anfänger-Kursen unter Anleitung während der Ausstellungsdauer als Partner von Lutz Förster und Co. fühlen. Das muss wohl so sein heutzutage und hat doch was Übergriffiges.)
Vorbei an Foto-Tischen und -Wänden mit Bildern von Orten und Gesichtern der Koproduktionspartner (erste von 14 Reise-Stationen war 1986 Rom für »Viktor«), vorbei auch an einer Wand mit 91 Porträts von Ensemblemitgliedern zwischen 1973 und 2009, oder auch vorbei an 13 Baum-Zeichnungen, die Mitglieder des Tanztheaters angefertigt haben als Material für »Palermo Palermo« (1989), stößt man auf den Längssaal mit sechs großen Leinwänden. Auf den Tafeln laufen im Wechsel Szenen aus den Choreografien – ein vitales Mahnmal, bis auf den heutigen Tag von einzigartiger Handschrift. Zudem aufschlussreich auch insofern, als parallel unterschiedliche Besetzungen nach dem Rollenwechsel von den ursprünglichen Tanzenden zur neueren Generation anschaulich werden. »Man ist, was man ist, und wir können auf der Bühne nur zeigen, wer wir sind«, steht als ein Satz von Pina an der Wand geschrieben.
Was sind sie denn, diese Männer und Frauen? Ausdruck von Schönheit in jedem Fall. Körper-Skulpturen und dynamische Masse in den »freien Aktions- und Spielräumen« von Rolf Borzig und Peter Pabst, Farbflecken, Erdlinge, soziale Wesen, Geschlechter-Typologien, individuelle Träger von Geschichten, Passionaras, Nixen, Blaubärte, Partygeher, Herren und Dienende, Bergbesteiger und und und. Die Leidenskraft, mitreißende, zart enthemmte Leidenschaft, erotische Energie und Grandezza der Frauen, die lässige Eleganz und Nonchalance der Männer – wo sieht man solche Darsteller heute?!
Dafür dass, wie Salomon Bausch einschränkend bei der Eröffnung sagte, wir im Museum »das Werk nicht zeigen können«, ist es in Bonn ungemein präsent. Eine comédie humaine und eine écriture humaine. »Diese Rollen waren alle mit meinem Körper geschrieben«, sagt Pina Bausch.
Bis 24. Juli 2016; zahlreiche Begleitveranstaltungen wie Workshops, Proben, Lectures, Talks und Filme.