Text Alexandra Wach
Nur 45 Werke sind bekannt; 17 Gemälde sowie 19 Zeichnungen zeigt die große Jubiläumsausstellung in seiner Heimatstadt ’s-Hertogenbosch. Dazu Bilder von Nachahmern, die den Grenzgänger zwischen Spätmittelalter und Renaissance bewunderten und kopierten.
Was Rotterdam 2001 zur letzten großen Bosch-Schau nicht gelang, holt »Iheronimus Bosch – Visionen eines Genies« in einer triumphal ausgeleuchteten Ausstellungsarchitektur nach. Der Prado in Madrid ließ das »Heuwagen-Triptychon« diesmal ziehen – in die Stadt, in der sein Urheber das Traditionskorsett eigenwillig sprengte und sich eine Sonderstellung als Botschafter fantastischer Welten sicherte. Ironie der Geschichte: Keines der gezeigten Werke befindet sich heute im Besitz des niederländischen 140.000-Einwohner-Orts.
Entstanden ist das Triptychon wenige Jahre vor Boschs Tod im August 1516. Da war er Mitte sechzig, verheiratet mit einer Patriziertochter und etabliert in den besten Kreisen von ’s-Hertogenbosch. Nicht nur, dass er ein Haus am Marktplatz besaß und der exklusiven Liebfrauenbruderschaft angehörte. Mächtige wie Philipp der Schöne von Burgund bestellten bei ihm Bilder. Es kann keine Rede sein von einem Sonderling mit erfrischend entgleisender Vorstellungskraft oder gar einem Häretiker und Freigeist, wie es die frühere Forschung zur Diskussion stellte.
Bosch war Kind seiner Zeit und doch auch ein wenig mehr. Er fand seine Inspirationen zwar in Tierkundebüchern und an heimischen Kirchenfassaden, die mit Ungeheuern und Mischwesen nicht geizten. Doch ließ er sie mit Trichter auf dem Kopf oder entblößten Hinterteil in Situationen stolpern, die in ihrer grotesken Aberwitzigkeit bis heute schmunzeln oder schaudern lassen, auch wenn ihre Überzeichnung ursprünglich wohl einer mäßigenden, mahnenden Unterweisung dienen sollte.
Für die geschlossenen Heuwagen-Flügel wählte Bosch das Motiv eines Landstreichers. Hinter dessen Rücken wird gerade ein Reisender ausgeraubt, während ein Hirtenpaar in der anderen Ecke der lieblichen Landschaft zur Dudelmusik tanzt. Lebensfreude, bei der ein Hauch von sündhaftem Treiben mitschwang.
Mehr davon ist im geöffneten Triptychon anzutreffen: Um einen Heuwagen in der Mitte versammelt sich eine wild gestikulierende Menge. Alle wollen etwas von dem wertlosen Heu abbekommen. Zur Not mit Gewalt. Auf der Jagd nach irdischem Besitz steuern sie direkt auf die Hölle im rechten Flügel zu – blind für die Anwesenheit unheimlicher Chimären und Teufel, die im Dienste des Bösen die Richtung ins Verderben vorgeben. Während sich links das nicht ganz koschere Paradies zunehmend entvölkert, bis auf einige Tiere, die sich schon vor dem Sündenfall gegenseitig den Garaus machen.
Der Prado hat seinen Schatz wohl wegen der angebotenen Restaurierungen herausgegeben, die das vor neun Jahren aktiv gewordene Bosch Research and Conservation Project neben neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen als Lockmittel einzusetzen wusste. Immerhin konnten die internationalen Fachleute den Leihgebern zwei Entdeckungen vorweisen. Dank Infrarot-Durchleuchtung und digitaler Makrofotografie gelang es, das Gemälde »Die Versuchung des heiligen Antonius« aus dem Nelson-Atkins-Museum in Kansas City und die Zeichnung einer »Höllenlandschaft« aus einer belgischen Privatsammlung Boschs eigener Hand zuzuordnen.
Auch der Louvre und die Sammlung der Yale University zierten sich nicht und sorgten nach gut 200 Jahren für ein Wiedersehen von »Narrenschiff« und »Völlerei und Lust«, die einst Teile des »Landstreicher-Triptychons« waren. Die Galleria dell’Accademia in Venedig nahm die Herausforderung an und schickte die berühmten »Visionen vom Jenseits«.
Unter den lichtempfindlichen Zeichnungen, deren nachgewiesene Anzahl sich im Zuge des Forschungsprojekts verdoppelt hat, findet sich auch manch eine Kuriosität. Etwa das Konzert in einer Eierschale oder die Sommerlandschaft mit einem abgestorbenen Baumstumpf in der Mitte, von der sich heute ein Edward Snowden angesprochen fühlen könnte. Sie beunruhigt mit dem Auftritt seltsam deplatzierter Körperteile. Übergroße Ohren horchen den Betrachter aus dem Dickicht heraus ab. Der Boden ist mit Augen angereichert, die neugierig starren – aus einer gar nicht allzu fernen Vergangenheit. Als wollten sie davor warnen, leichtfertig persönliche Geheimnisse preiszugeben.
Überhaupt regt der mit Animationen und Detailvergrößerungen aufgelockerte Parcours zu erstaunlichen Aktualisierungs-Gedanken an. In den angenehm dezent inszenierten Räumen des Noordbrabants Museum überraschen selbst die Heiligen-Bilder mit einem Echo in die Gegenwart. Bosch befriedigte die Nachfrage nach tugendhaften Viten einerseits, schleuste aber andererseits auch entzaubernde Irritationen ein.
Nachahmer seiner geltende Grenzen überschreitenden Ikonografie fanden sich offenbar en masse, zumal Bosch wahrscheinlich in einer Werkstatt gearbeitet hatte. Etwa mit dem Gruppenbild »Der Gaukler«, das eine Form des »Antanzens« variiert. Während ein Betrüger vor einer Menschenmenge einen Trick vorführt, lenkt ein Junge das Opfer ab, ein zweiter Komplize greift zeitgleich hinter dessen Rücken nach der Geldbörse.
Da wirkt Boschs Insekt mit menschlichen Händen und dem Gesicht eines Gelehrten nahezu harmlos. Selbst in dieser heiklen Situation behält es seine Brille auf. Das Mischwesen hat sich neben dem Apostel Johannes gehockt und lauscht dem Gespräch mit der Jungfrau Maria. Spezialisten meinen in dem melancholischen Gesicht ein Selbstporträt Boschs zu erkennen.
Andere höhnisch grinsende Gestalten sind weniger zimperlich. Sie pferchen ihre Opfer in Tonnen ein, funktionieren ihre Körper zu Klöppeln um und denken sich allerlei Folterpraktiken aus, während sich der Schöpfer damit begnügt, das infernalische Geschehen aus der Distanz des Himmels zu beobachten. Einige ergreifen die Flucht über Wasser in überdimensionalen Hausschuhen und entkommen doch nicht den Fratzen jener, die die Not mitleidslos genießen. Eigentlich verwunderlich, dass der große Realist Bosch, der die Brutalitäten der Epoche bezeugte, es in seiner Endzeit schaffte, dem Randphänomen Bettler ganze Studien zu widmen. Und siehe da, auch diese Bemitleidenswerten mit ihrem tradierten Gestenreservoir erkennt man wieder – aus den Durchgangszonen unserer Großstädte.
Für die Rätsel der Nachtseite des Daseins hat Bosch auch eine hellere, hedonistische Antwort parat. In seinem »Garten der Lüste«, der nur in einer zeitgenössischen Kopie hängt, weil das Original Madrid gewiss zu kostbar ist, geben sich die Menschen kooperativ. Was sich aber als Altarbild gibt, erfüllte kaum den Zweck der Andacht. Zwischen den ausgelassen feiernden Nackten lassen sich bereits dunkelhäutige Einwanderer ausmachen. Man treibt Sport, frönt den Verlockungen des Sexus in einer durchsichtigen Blase und lässt sich von Vögeln mit exotischen Früchten füttern. Obgleich das Böse anwesend ist: Ein Löwe schnappt nach einem Reh. Irgendwo vernascht auch eine Raubkatze ein Reptil – Eros und Thanatos aus der Sicht eines Künstlers, der sich an seinen moralisierenden Erzählungen delektierte.
Ob Rauschmittel Bosch zu seinen erratischen Halluzinationen verholfen haben? Aus der Hommage an den überschäumenden Demaskierer der Conditio humana und Zeitgenossen von Leonardo, Dürer, Raffael und Bellini kommt man jedenfalls berauscht heraus. Dafür lohnt die Reise in die nordbrabantische Provinz. Für Bosch ein Leben lang der eine und einzige Ort seiner konkreten Abnormitäts-Visionen.
»IHERONIMUS BOSCH – VISIONEN EINES GENIES «, NOORDBRABANTS MUSEUM, BIS 8. MAI 2016, TEL.: 0031 (0)73 6877844