Text Andreas Wilink
Man kann diese Roman-Verfilmung nicht genug loben. Es stimmt alles. So hat man es sich beim Lesen vorgestellt. Und doch verstellen die Bilder den Blick auf das Buch keineswegs und engen eigene Fantasie nicht ein. Wie jede Geschichte, die der Ire Colm Tóibín erzählt, handelt »Brooklyn« von Familie, Fremdheit, Heimat und ihrem Verlust. Eilis Lacey hat in den 1950er Jahren in ihrem irischen Geburtsort keine Aussicht auf Arbeit. Auf Vermittlung eines katholischen Priesters und ihrer bewunderten älteren Schwester Rose, die daheim bleibt, auch um die Mutter zu versorgen, bekommt Eilis eine Stellung in New York in einem Warenhaus, mit der Möglichkeit, nach einem Abendstudium Buchhalterin zu werden.
Nach der quälenden Überfahrt lebt sie in einer von einer respektablen irischen Matrone streng geführten Pension für junge Damen. Autoritäten werden nicht angezweifelt. Konventionen gelten unverbrüchlich. Aber das schüchterne, helle und kluge Mauerblümchen Eilis (Saoirse Ronan), die zunächst vor Heimweh fast vergeht, blüht auf, ist lernwillig, wird selbstbewusst und erwachsen. Sie macht was her. Eilis trifft den italienischstämmigen Tony, mit dem sie sich heimlich verheiratet, bevor die Nachricht von Roses Herztod sie zur Rückkehr zwingt – ein Schnitt genügt Regisseur John Crowley dafür. Eilis – plötzlich fast ein Glamourgirl, aber gewiss ein Glanz, wie eine Figur der Irmgard Keun – kann nun zu Hause all das erreichen, was ihr zuvor versagt wurde. Ein zweiter Mann und möglicher Partner, Jim Farrell, eröffnet eine andere Perspektive. Eilis muss sich entscheiden: zwischen zwei Welten und zwei Gefühlen, der Enge und der Weite, dem traditionell Vertrauten und einem riskanteren, ungedeckten Lebensentwurf. An dieser Stelle verhält sich das Drehbuch gegenüber dem Roman eindeutiger, wenn Eilis von der bigotten, missgünstigen Miss Kelley unter Druck gesetzt wird, die über ihre Ehe in Brooklyn Bescheid weiß. Eilis antwortet ihr gerad’ heraus: »Ich hatte vergessen, wie diese Stadt ist«.
Toibín hat mit seiner vor-emanzipatorischen Geschichte eine große Frauenfigur geschaffen, im Kino würdig eines David Lean. Aber auch John Crowley macht – in an old fashioned way – seine Sache gut. Ganz fehlt das Wissen des auktorialen Erzählers, der ins Innere seiner Heldin lauscht. So muss sich alles über Äußeres, die Oberfläche, die Außenansicht herstellen. Diese Fähigkeit hat der Film der Literatur voraus.
»Brooklyn«; Regie: John Crowley; GB / Irland / Kanada 2015; 113 Min.; soeben angelaufen.