Das Jubiläum zum 40. Geburtstag hätten sich das Simón Bolívar Symphony Orchestra of Venezuela und sein musikalischer Direktor in diesem Jahr etwas anders vorgestellt. Denn statt 2015 den Musikern, die sich 1975 im Rahmen des Nachwuchsprojekts »El Sistema« zusammentaten, einhellig zu gratulieren, meldeten sich kritische Stimmen zu Wort. Der englische Musikjournalist Geoffrey Baker hat ein Buch über den Sistema-Betrieb verfasst, das am Heiligenbild des Gründervaters José Antonio Abreu kratzt. Zudem warf die Starpianistin Gabriela Montero dem berühmtesten Sistema-Abgänger Gustavo Dudamel vor, sich als Orchesterleiter für die Propaganda des venezolanischen Staatspräsidenten Nicolás Maduro instrumentalisieren zu lassen.
Zu solchen Anwürfen äußert sich Dudamel nicht. Das würde ihm nur Kraft und Konzentration rauben. Der Mann will einfach nur Musik machen. Mit seinem impulsiven Temperament vermag er jedes Orchester von Weltrang zu infizieren. Zuletzt geriet er im vergangenen November bei der Neuinszenierung von Mozarts »Figaro« an der Berliner Staatsoper mächtig in Wallung.
Obgleich der 34-Jährige seit 2009 als Musikdirektor der Los Angeles Philharmonic eingespannt ist, erübrigt er Zeit für Gastspiele, etwa bei den Berliner Philharmonikern. Jedes Jahr kehrt er zu seinen Wurzeln nach Caracas zurück und erarbeitet mit dem Simón Bolívar Symphony Orchestra ein neues Programm. Als 18-Jähriger wurde Dudamel an die Spitze des Orchesters gewählt, dessen Mitglieder mittlerweile zwischen 18 und 28 Jahre alt sind. Gewaltige Repertoire-Brocken hat man einstudiert; dazu gehören Sinfonien von Beethoven bis Mahler.
Auf seiner Europa-Tournee macht das Team zwei Mal in NRW Station. Speziell Igor Strawinskys »Le Sacre du printemps« dürfte bei Dudamel gute Erinnerungen wecken. Mit nur 13 Jahren hat er als Violinist sein erstes Konzert mit dem Simón Bolívar Orchestra gegeben: mit »Sacre«. Später, während seiner Berliner Assistenz bei Sir Simon Rattle, lernte er das Jahrhundertstück dann im Rahmen des Jugend-Tanz-Projekts »Rhythm is it« ganz genau kennen. Mit den Wiener Philharmonikern und mit dem Bolívar-Ensemble hat er es auch gespielt. Das Schöne sei für ihn, dass er diesem Orchester oftmals gar nicht zu sagen brauche, wie er sich eine Passage vorstelle. »Allein der Rhythmus in dem Satz ›Verherrlichung der Auserwählten‹ – das ist einfach wie Heavy Metal!«
Der krachende Klassiker der Moderne ist nicht das einzige Mitbringsel. In Essen wird der Strawinsky-Abend mit der Ballettmusik zu »Petruschka« komplettiert. Einen Tag darauf steht in Köln die abendfüllende Feier der Liebe und der Schöpfung auf dem Programm, die der Franzose Olivier Messiaen in seiner riesig besetzten Turangalîla-Sinfonie 1948 für das Boston Symphony Orchestra komponiert hat. Für den ausgeprägten Klavierpart des opulenten Klang- und Glaubensmanifestes wurde die chinesische Pianistin und Wahl-New Yorkerin Yuja Wang eingeladen.
Gustavo Dudamel & das Simón Bolívar Symphony Orchestra of Venezuela: 23. Januar 2016, Philharmonie Essen mit Igor Strawinsky; 24. Januar, Philharmonie Köln mit Olivier Messiaen