Text Andreas Wilink
In gewisser Weise ist es auch eine Erstürmung des Winterpalais, bei der 1917 die Roten den Zarenpalast in St. Petersburg eroberten, wenn Sergej Eisenstein 14 Jahre später in einem mexikanischen Bett entjungfert und okkupiert wird. Jener Großkünstler Eisenstein, der das revolutionäre Ereignis in seinem Film »Oktober« nachgestellt hatte.
So jedenfalls will Peter Greenaway die Mannwerdung in seinem cineastischen Essay sehen und verstehen, der sich vordergründig als Spielfilm maskiert: »Es werden die zehn Tage sein, die Eisenstein erschütterten«. Nach Südamerika reist 1931 der selbst vom kapitalistischen Hollywood gefeierte Weltstar der Filmkunst (»Panzerkreuzer Potemkin«) für Dreharbeiten zu »Que viva Mexico«. Im Gepäck hat er Postkarten vom Heiligen Sebastian und Caravaggios Johannes dem Täufer, nackte Kunst-Knaben in lasziven Posen, und zudem obszöne Zeichnungen à la Cocteau. Jede fromme Senorita errötet schamhaft angesichts der Abbildungen.
Der homosexuelle jüdische Kommunist (Elmer Bäck) ist fasziniert vom vitalen Totenkult des aztekischen Katholizismus und seiner Verbindung von Eros und Thanatos, von Sex und Tod (»das Nicht-Verhandelbare«, wie er sagt). Gewohnt an Triebverzicht, lebt der körperlich gehemmte, nur intellektuell exhibitionistische und clowneske Sergej diese Leidenschaft aus, indem er sich von seinem jungen ansehnlichen »Führer« Canedo (Luis Alberti) willig verführen lässt, und zudem in der sinnenfrohen Atmosphäre eine andere Sicht auf Stalins Terror-Regime entwickelt.
Greenaway dreht einen Eisenstein-Film, das heißt, er wendet dessen Kunst der Montage forciert an: springt abrupt in exzentrische Großaufnahmen, teilt die Leinwand zum Triptychon, wählt krasse Einstellungen, assoziiert und collagiert wie wild. Geht aufs Ganze, indem er pars pro toto operiert. Capriccio Mexicano: Pistoleros stehen herum wie für eine Karl-May-Geschichte. Eisenstein windet sich wohlig unter der Dusche, wird von Fliegen gepiesackt, fällt unter Skelette, exaltiert sich auf der Opernbühne mit Filmorchester. Taucht ab in eine für ihn olympische Unterwelt, wo er das Begehren entdeckt. Sein Coming Out.
»Eisenstein in Guanajuato«, Regie: Peter Greenaway, B/FR/NL/MX 2015, 105 Min.; Start: 12. November 2015.