TEXT: GUIDO FISCHER
Als Reiner Michalke 2006 beim Moers Festivals antrat, war er voller Tatendrang. Und verkündete: »Es soll wieder ein kontroverses Festival werden, das national und international wahrgenommen wird«. Die 44. Ausgabe des renommierten Jazzfestivals ist in diesem Jahr zugleich seine zehnte als künstlerischer Leiter. Rückblickend erstaunt es ihn wohl selbst ein wenig, dass er solange im Amt blieb. Zwischendurch sah es so aus, als ob Michalke hinschmeißen würde. Die städtischen Mittel wurden seit 2006 drastisch gekürzt. Im Rat kursierte der Vorschlag, das seit 1972 am Pfingstwochenende stattfindende, unrentable Jazzmeeting sterben zu lassen. Dass das nicht geschah, liegt nicht zuletzt an Michalkes Kompromissbereitschaft.
Den Spagat zwischen künstlerischem Anspruch und organisatorischen Zugeständnissen an die Haushaltslage hat er ein weiteres Mal hinbekommen. Einerseits musste er angesichts des letztjährigen Defizits von 50.000 Euro auch die Konzerte im Dunkelzelt sowie Veranstaltungen mit Kindern und Jugendlichen einsparen, die traditionell in der Woche vor Pfingsten stattfanden. An den vier Festivaltagen kann man am Niederrhein jedoch weiterhin experimentierfreudige Musiker kennenlernen – ein Programm, das in dieser komprimierten Form anderswo kaum geboten wird. Es zählen Innovation und Risiko, nicht der große und zugkräftige Musikername, mit denen andere Festivals volle Konzerte garantieren.
So kommt etwa Colin Stetson als Artist in Residence, ein amerikanischer Saxofonist, dessen klangliche Reichweite kaum begrenzt ist. Von robust lärmend über surreal-lautmalerisch bis zu minimalistisch lyrischen Schleifen zieht er alle Register. Zu seinen musikalischen Partnern gehörten Charakterköpfe wie Tom Waits, Laurie Anderson und Anthony Braxton. Mit vier völlig unterschiedlichen Projekten gastiert Stetson in Moers. Mit der kanadischen Violinistin Sarah Neufeld setzt er seine im vergangenen Jahr in Moers begonnene Arbeit fort. Nach diesem feinen kammermusikalischen Jazz lässt es Stetson dann u.a. mit dem Bassisten Trevor Dunn mächtig krachen, um sich schließlich mit einer Bigband an die Neubelichtung der 3. Sinfonie des polnischen Komponisten Henryk Górecki zu machen.
Mit ähnlich großer Besetzung kehren die in Moers bekannten Musiker Hayden Chisholm, Michael Mantler und Mikko Innanen zurück. Der Moerser Improviser in Residence, Saxofonist Chisholm, stellt sein jüngstes Programm mit dem Lucerne Jazz Orchestra vor. Der österreichische Trompeter Michael Mantler, der in den USA gemeinsam mit Carla Bley jüngere Bigband-Geschichte schrieb, gibt ein Update seines 1968 gegründeten Jazz Composer’s Orchestra. Nach seinem Moers-Debüt präsentiert der finnische Saxofonist Mikko Innanen sein Kollektiv »10+«, das die Grenze zwischen avanciert und ziemlich verrückt beherrscht. Wer darüber hinaus vielleicht nur bestes Funk- und Gospel-Entertainment erleben will, dem empfiehlt Michalke die aus Texas stammenden Jones Family Singers: »Wer jemals James Brown live gesehen hat, wird nicht enttäuscht sein«.
Moers Festival, 22. bis 25. Mai 2015, Festivalhalle; www.moers-festival.de