Ausweitung der bürgerlichen Kampfzone: Yasmina Reza, erfolgreichste Theaterautorin der Gegenwart, hat für Thomas Ostermeier und die Berliner Schaubühne ein Stück geschrieben, »Bella Figura«, das in Kooperation mit den Ruhrfestspielen in Recklinghausen Ende Mai Premiere hat.
Als Yasmina Reza vor einem Jahr in der Berliner Schaubühne den von der Düsseldorferin Gabriele Henkel gestifteten Kythera-Preis bekam – benannt nach Aphrodites antiker Insel der Seligen und vergeben an Künstler, die den deutsch-romanischen Kulturaustausch befördern –, hielt Michael Krüger die Laudatio. Der Verleger und Schriftsteller – selbst Kythera-Preisträger – gab aus der profunden Kenntnis von Rezas Literatur den halb versteckten Hinweis, dass man die Figuren ihrer Stücke womöglich am besten von ihrem Roman-Personal her betrachte, wie dem jüdischen Alten in seinem »Verzweiflung«-Monolog, einem anderen Hiob.
Es hat keinen Sinn. Allenthalben Missgriffe, Fehltritte, und nur die Illusion von Individualität. Kein Denk-Gebäude, keine schöne Fassade verhindert die Entfremdung – zwischen Lebenspartnern, Liebespaaren, besten Freunden, dem Ich im Verhältnis zu sich selbst. Verhindert nicht den Riss zwischen Mensch und Schöpfung. Yasmina Reza fährt mit ihren Zuschauern und Lesern Schlitten. Wir sitzen mit ihr »Im Schlitten Arthur Schopenhauers«. So heißt Rezas aus Monologen konstruiertes Stück, das ihr genialer Uraufführungs-Regisseur Jürgen Gosch in Berlin zur Aufführung brachte. Sie sei aber weder Pessimistin noch Optimistin. »Ich sträube mich gegen solche Definitionen. Das Wort Pessimismus ist mir auch viel zu vage. Das Wort Optimismus ist noch schlimmer. … Ich erkenne da keine Konturen.«
Wie viel Philosophie enthalten Rezas virtuose dramatische Plots? Diese höchst unterhaltsamen Konversations- und Gesellschafts-Dramen aus dem Century of Self über familiär vereinzelte Monster der Unverbindlichkeit und »Gegenwartsnarren« (Botho Strauß), in denen sie Molière, Bergman und eben Strauß zur luftigen Synthese bringt. Es sind Spaziergänge auf dem Boulevard, aber einem der Dämmerung. Vorsicht, Absturzgefahr.
Das Phänomen des weltweiten Erfolgs mit ihren Stücken »Kunst«, »Drei Mal Leben«, »Der Gott des Gemetzels«, »Ihre Version des Spiels« ist schwer zu erklären. Das Geheimnis scheint ihre Geheimnislosigkeit, ihre scheinbar glasklare Durchschaubarkeit.
Durchschaubarkeit. Ihre Helden, die das wilde Tier in sich von der Leine lassen, sind ganz im Diesseits verhaftet. Sie stehen grundlos. Reiben sich in einer Eskalation extraordinär an Nichtigkeiten. Pure Nerven-Figuren, deren Substanz Ressentiment und Renommier-Gehabe, Frustration, Häme und Egozentrik bildet. Das Motiv der »Verleugnung« könnte ein Schlüssel zu ihnen sein. Die Handlung ist konkret und doch abstrakt, ihr Pessimismus ist hell, weiß wie ein Leichenhemd, ihre Fatalität ein formidabler Witz. »Dem Einfachen entspringt Pathetisches«, hat Yasmina Reza über ihr Schreiben gesagt, das zuletzt vielleicht eine große Gottsuche oder Gottesklage ist.
»Nirgendwo« heißt Rezas Buch der Erinnerungen. Eine Null-Utopie. Dabei scheint sie zuhause in der deutbaren Welt. Dabei lässt sich – äußerlich – dieser Nicht-Ort, ihre »Wurzellosigkeit« erden und dingfest machen. 1959 geboren, ein Kind jüdischer Eltern aus Paris: Die Mutter stammt aus Budapest, der Vater aus Samarkand, sie Geigerin, er ein von der Musik und seiner Arbeit besessener Geschäftsmann.
Es gab in ihrer Kindheit offenbar keine Vergangenheit, ob verklärend, ob betrauernd, keine Rituale, keine Feiern des Einst, keine Verlustrechnungen. Nur Gegenwart. Sie kenne »keine Musik der Anfänge«. »Keine Wurzeln heißt: keine Biografie. Das ist vielleicht nicht Freiheit, aber Leichtigkeit.«, hat sie kürzlich im SZ-Interview gesagt. Das Mädchen, aus jeder Gruppe ausgeschlossen, wuchs auf in der Ambivalenz von Anpassung und Anderssein, denn die gelingende Eingliederung in die französische Gesellschaft und das Kultivieren von Sonderheit und Differenz wurden gleichermaßen in der Familie Reza gepflegt. So zwingend wie schockierend dann diese Bemerkung: Als wären sie »Neureiche des Todes«, verwundert sie sich über den auf dem jüdischen Teil des Friedhofs Montparnasse bestatteten Vater und die Seinen.
Präzision ist ein Begriff, der Reza bestimmt. Der macht es, richtig angewandt, leicht. Der macht es schwer, wenn etwas oder jemand nicht exakt erfasst wird. Sie will das Missverständnis vermeiden. Und missverstanden wird immer. Man schreibt ihr Scheu zu. Die Distanz und ihr Meiden von Präsenz in der Medien-, Meinungs-, Konsum- und Kommunikationsdemokratie (ihre Nahstudie über Sarkozy, »Die Dämmerung, der Abend oder die Nacht«, den sie ein Jahr lang im Wahlkampf begleitet hat, ist ein Sonderfall – Politik betrachtet sie als »reines Theater« und die Hauptfigur als »Echo auf die Obsessionen meiner eigenen Stücke«) ließe sich als Reflex auslegen. Aber vielleicht ist das nicht interessant. Die Banalisierung, die Erklärungsversuche bergen, mag ein Grund sein, weshalb Reza ungern Interviews gibt, nicht gern von sich und ihrer Arbeit spricht. Da sei sie »störrisch wie ein Tier«. Against Interpretation. Man sieht, was herauskommt, wenn zu viel gequatscht wird. Sieht es in ihren musikalisch komponierten Stücken, die zwar in lautstarken Krächen explodieren und doch – nachhaltiger – still implodieren.
Der letzte Satz in »Der Gott des Gemetzels« heißt: »Was weiß man schon«. Besser nicht rühren ans Geheimnis. In »Nirgendwo« schreibt sie: »Es gibt einen harten Erdboden, festgetreten seit Jahren, den es vielleicht eines Tages, wenn ich genug Kraft und Mut dazu aufbringe, umzugraben gilt.« »Ich habe keine Herkunft. Wenn ich in der Zeitung lese: Iranerin, Russin, Jüdin, Ungarin, dann sind das Worte, die ich gesagt habe. Es gibt keine Bilder, kein Licht, keinen Geruch, nichts.« In diesem neutralen Vakuum, in dem auch das Judentum und der Holocaust wohl lange keine Kategorien waren, kriegt das Glück keine Luft. Aber ist Glück Voraussetzung fürs Gelingen? Reza schreibt, es sei »unnütze Last für die Zukunft«. Das klingt hart. Hart wie ein Diamant, geschliffen wie die Stücke der ehemaligen Schauspielerin, die ihre Bühnenwerke manchmal selbst inszeniert. Identität findet sie im Schreiben. So spielt sie Möglichkeiten von Unglück durch, während das Glück aus den unerwarteten Ecken kommt. »Ich glaube an Momente absurden Glücks. Nur diese Art von Glück impliziert keinen Kummer, weder vorher noch nachher.« In einem ihrer Bücher steht: »Man kann mit dem Glücklichen nicht lachen.«
Es ist kein Zufall, dass der in Frankreich geborene polnische Jude Roman Polanski, der als Kind auf der Flucht Deportationen und das Morden erlebte und dabei den Glauben verlor, der Regisseur von »Ekel«, »Rosemaries Baby« und »Der Pianist«, Rezas Welterfolg »Der Gott des Gemetzels« verfilmt hat.
Bleiben wir kurz bei dem Stück, das Jürgen Gosch 2006 in Zürich auf Deutsch (!) uraufgeführt hat. Ferdinand hat zugelangt, auf einem Pariser Square liegen zwei abgebrochene Schneidezähne Brunos. Weshalb bei den Eltern Houillé und Reille der Nervenkrieg ausbricht. Schadensregulierung und Wiedergutmachung lassen sich nicht versicherungstechnisch abwickeln, sondern verlangen nach persönlicher Geste, Aufklärung, sittlichem Ernst, pädagogischer Reife. Nach Beherrschung triebhafter Rest-Regungen. Für Menschen, die guten Willens sind, wohl kein Problem. Im Land des Toleranzedikts regiert der Code Civil, nicht das Gesetz des Dschungels. Vorläufig.
Die Zimmerschlacht zeigt, dass kein Schutzmechanismus wirkt, kein Transfer gelingt, nichts mehr gilt und funktioniert. Nicht die Solidarität des Geschlechts und Identifikation mit dem Ehepartner. Nicht Kulturleistungen, die dazu taugen, in Plattitüden abgepackt zu werden. Nicht soziales Engagement und politisch korrektes Verhalten. Nicht die Rhetorik der Besorgnis und überhaupt Verbindlichkeit.
Die Genre-Bezeichnung Komödie muss man vorsichtig abtasten. Yasmina Reza hört sie nicht gern. Auch nicht in der Wort- Kombination: Beziehungs- oder Konversations-Komödie, auch nicht Farce oder Satire. Als würde die Kategorie des Ernstes damit ausgestrichen. Als wäre darin nicht die Katastrophe enthalten, der Wahn- und Widersinn, die Masken, mit denen der Tod Scherz treibt, das Lachen über die Verkennung.
Yasmina Reza schreibt über die bürgerliche Klasse, über gebildete, kultivierte, materieller Sorge enthobene Menschen. Die Stützen der Gesellschaft, die vom Citoyen nichts mehr wissen und den Bourgeois in sich nicht erkennen wollen. Erstaunlicherweise nehmen Zuschauer, die eben diesem Kulturbürgertum angehören, nicht übel, dass ihnen auf der Bühne unblutig der Garaus gemacht und über sie Gerichtstag gehalten wird. Offenbar liegt in der Betrachtung der sprachmächtigeren Abbilder auch Genugtuung über die eigene Bedeutsamkeit, die die formvollendete Demontage aufwiegt.