TEXT: HONKE RAMBOW
Bei der Uraufführung 1862 fiel Johann Nepomuk Nestroys letztes Stück, eine »indianische Faschingsburleske«, bei Publikum wie Kritik durch. Erst 50 Jahre später wurde »Häuptling Abendwind« wiederentdeckt. Ob die Zeitgenossen den satirischen Gehalt nicht verstanden hatten oder der mangelhafte Gesang der Schauspieler Grund für den Misserfolg war, ist unklar. Für letzteres spricht, und das erklärt Andreas Beck, der das Stück am Dortmunder Schauspiel inszeniert, so: »Im Kern handelt es sich vor allem um eine Übersetzung einer Operette Jacques Offenbachs. Die Übertragung der gesungenen Texte ist allerdings auf Offenbachs Komposition extrem schwer zu singen.« Vielleicht sei auch das ein Grund dafür, dass kaum Aufnahmen und schon gar nicht eine Gesamtaufnahme von Nestroys Fassung existiert, vermutet Beck.
Da im Theater Dortmund ohnehin nicht an eine Orchesterbesetzung zu denken war und eine Band her musste, entstand die Idee zu etwas ganz Neuem. In »Häuptling Abendwind« gehe es zunächst »um das Anderssein und die Angst, von der westlichen Zivilisation entdeckt und vereinnahmt zu werden« erläutert Beck: »Also dachte ich, dass wir eine Punkband brauchen, weil die Punk-Lebensweise vor allem auf dem Anderssein fußt und Gegenentwurf zur Zivilisiertheit ist«.
Die kannibalistischen Wilden sind in dieser Version Punks, die in ihrer Stammkneipe »Biergalerie« der gepflegten Anarchie frönen. Fürs Festmahl mit den Besuchern von der Nachbarinsel warten sie auf ein Opfer, das mit einem europäischen Friseur an den Strand gespült wird. Der wird schließlich doch nicht verfrühstückt, weil er den Koch mit Haarschneidekünsten besticht, und entpuppt sich als der verschollene Sohn des Häuptlings von nebenan. Fleischgenuss und Punks: Da war die Anfrage bei »Die Kassierer« aus Wattenscheid nicht weit.
In diesem Jahr feiern »Die Kassierer« ihr 30. und sind nach »Die Toten Hosen« und »Die Ärzte« die erfolgreichste und bekannteste Deutschpunk-Band. Allerdings ächzt der Vergleich mit den Kollegen. »Die Hosen« um Sänger Campino haben sich längst vom wie immer gearteten Punk-Dasein verabschiedet. Äußerster Ausdruck ihrer Verbürgerlichkeit sind Unplugged-Konzerte im Wiener Burgtheater und die Zusammenarbeit mit Wim Wenders. »Die Ärzte« wiederum verschreiben sich einer Popästhetik, die nur in sanft rebellischen Texten gelegentlich pubertäres Potenzial entfaltet.
»Die Kassierer« hingegen konnten sich ihre Punk-Glaubwürdigkeit bewahren, obwohl man sie unterschätzen würde, sie auf drei Akkorde, Provokation, Alkohol und Sex zu reduzieren, auch wenn sich Sänger Wolfgang »Wölfi« Wendland regelmäßig bei Konzerten komplett auszieht. Wobei sie mit ihrem Album »Taubenvergiften« (1997) mit Georg-Kreisler-Chansons durchaus prädestiniert wären fürs Wiener Burg-Parkett. Bislang wagte sich kein Theater – anders als bei »Einstürzende Neubauten«, »Die Toten Hosen« oder den slowenischen Polit-Provokateuren »Laibach« – an eine Kooperation, obwohl die Mitglieder als Theater-, Film- und Fernsehwissenschaftler (Wölfi Wendland) und Jazzmusiker (Volker Wendland) das Rüstzeug mitbringen.
Beck & Co fabrizieren nun die erste Punk-Operette – wobei das erste »e« durch ein Anarchiezeichen ersetzt wird. Ursprünglich stand noch Jacques Offenbach als Autor im Spielplan, doch, so Beck, »das ließ sich nicht halten. Jetzt ist nur noch der berühmte Cancan übrig, der allerdings gar nicht in das Stück gehört«. Die anderen Songs stammen von »Die Kassierer«, teilweise auf die Nestroy-Texte neu komponiert, zum Teil aus bereits bestehendem Material umgedichtet. »Und wenn das doch jemand schon mal gemacht hat«, sagt Wölfi Wendland, »soll er sich halt melden«.
Dass Punk und Operette zusammen gehen, daran hat er keinen Zweifel. Wo er doch »jahrelang nichts anderes als Operetten gehört« habe, so der Kopf der Band. Kein Wort will man ihm glauben, wie er im Sessel hängt, den mächtigen Bauch stolz vorgeschoben, im Gesicht eine rote Knollennase, nikotingelbe Zähne und ein leise ironisches Lächeln. Früh habe er erkannt, dass man jede Musik gut finden könne, wenn man sie nur oft genug hört. Die gebrauchten Operetten-Platten im Laden nebenan seien billiger gewesen als aktuelles Vinyl. Außerdem sei es eine gute Abgrenzung gegenüber seinem Bruder gewesen, der aktuellen Rock hörte.
Wölfi, ein Operetten-Fan? Jedenfalls hat er nichts von der Gesangstechnik übernommen. Beeindruckend, wie schlecht Wendland nach drei Jahrzehnten noch immer singt. Eher spricht er seine Texte, die gelegentlich nur aus zwei, drei Zeilen bestehen, in einem Ton zwischen Agitation und Langeweile. Gerade das muss es sein, was ihn glaubwürdig macht, während die übrigen Band-Mitglieder sich versierter erweisen. Eigentlich sind sie musikalisch zu vielfältig für eine echte Punk-Kombo.
Was ist denn mehr veraltet, Operette oder Punk? Wendland zögert, Beck antwortet: »Ganz klar, die Operette«. Doch auch für Wendland ist klar, dass der Punk nicht tot ist, er wollte nur Beck den Vortritt lassen. Wie er sich überhaupt sehr zurückhaltend gibt.
Nestroy und »Die Kassierer« verbindet noch etwas. Beide gerieten wegen ihrer Texte mit dem Gesetz in Konflikt. Glimpflich kamen »Die Kassierer« davon, weil ihren Songs kabarettistischer Charakter zugesprochen wurde. Nestroy indes verbüßte 1836 eine Haftstrafe wegen Extemporierens. Dass Wölfi Wendland bei den Aufführungen den Alleingang wagt, ist unwahrscheinlich: »Im Gegensatz zu unseren Konzerten ist Theater ziemlich schwierig, weil ich keine Fehler machen darf«, so der Sänger, der auch den Koch in der Kannibalismus-Satire spielen wird. Den Punk-Exzess muss dann wohl das Publikum liefern. Man habe bereits von einem Fan aus Karlsruhe gehört, der eine Busreise organisieren will. Doch hat sich das Team nach reiflicher Überlegung darauf geeinigt, am Verhaltenskodex im Schauspielhaus nichts zu ändern. Leere Bierkisten stehen nur auf der Bühne, der Zuschauerraum bleibt getränkefrei.
»Häuptling Abendwind«, Vorstellungen: 12. und 21. Februar 2015 sowie im März, April und Mai; Schauspielhaus.