TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
»Die Operette ist besser als ihr Ruf«, begann der Literaturwissenschaftler Volker Klotz vor einem Vierteljahrhundert sein Plädoyer für die »unerhörte Kunst«. Sein Operetten-Handbuch ist das originelle und engagierte Bekenntnis zu einem Genre, das um 1990, auf dem Höhepunkt des Regietheaters, nurmehr als verstaubtes Zeugnis für den schlechten Geschmack der Vor- und Nachkriegszeit galt. Die Operette war ein Opfer ihrer »stumpf-sinnigen Verwerter«, so Klotz: »Was uns derzeit unter dieser Kennmarke begegnet – auf Bühnen und Schallplatten, in Funk und Fernsehen –, ist nur ein kümmerlicher, meist entstellter Teil ihrer Ausdrucksmöglichkeiten.«
Das mag auch heute noch für die eine oder andere Produktion in der Provinz oder an manchen auf ihre (in diesem Fall schlechte) Tradition stolzen Staatstheatern gelten. Unübersehbar aber ist der Gesinnungswechsel bei der jüngeren Generation von Regisseuren und Intendanten: Die Operette und ihr Nachfolger am Broadway, das Musical, werden als Genre wieder ernst genommen. Man setzt sie regelmäßig und selbstverständlich auf den Spielplan, lässt sie sorgfältig proben und behandelt sie auch im Etat nicht mehr stiefmütterlich. »Das A und O in beiden Genres ist die bestmögliche Besetzung überhaupt«, sagt Ulrich Peters, der als Intendant in Münster das leichte Genre propagiert und auch selbst inszeniert. »Operetten und Musicals sind die teuersten Stücke, die ich im Spielplan habe. Aber was ich an Geld für Bühnenbild und Darsteller zum Fenster hinauswerfe, kommt hoffentlich am Abend wieder zur Tür herein.«
Viele Intendanten teilen diese Hoffnung. Deshalb lässt man sich die Unterhaltungskunst wieder etwas kosten: in Münster, wo im kommenden Februar Cole Porters Musical »Anything Goes« auf einen Ozeandampfer verfrachtet wird; in Bonn und Dortmund, wo Gil Mehmert »Jesus Christ Superstar« als emotionalen Berserker durch unsere Gegenwart stürmen lässt; in Hagen, wo Stephen Sondheims Musical »Die spinnen, die Römer« und Paul Abrahams »Ball im Savoy« Premiere haben. Mit Ausnahme vom Aalto Theater und der Kölner Oper, die aus Kostengründen nur eine konzertante »Lustige Witwe« zustande bringt, lässt in dieser Saison jedes Musiktheater in Nordrhein-Westfalen mindestens eine Operette oder ein Musical vom Stapel.
Nach einer Phase, in der die Operette als Klamotte im Abonnement überwinterte und das Musical in Long-run-Serien an eigenen Theatern zu profitablen Rennern frisiert wurde, scheinen sich die Theater jetzt die Gattungen zurückzuerobern – oft in fantasievoll-jugendfrischer Aufmachung und historisch korrekter Form. Was steckt dahinter?
Zeitgeist! – ist eine Erklärung. Der wird im Moment vor allem in der Hauptstadt in die Operette gepustet. Der Tanzmeister heißt Barrie Kosky, Intendant der Komischen Oper und gebürtiger Australier mit jüdisch-ungarisch-polnisch-russischen Wurzeln. Vielleicht hat es mit dieser Herkunft zu tun, dass Kosky für das sozial bunt gemischte Personal der Operette, ihren Humor und ihre stilistische Vielfalt eine Schwäche hat. Zwar werden in der Berliner Saison auch ernste, schwere Stücke wie Schönbergs »Moses und Aron« und Händels »Giulio Cesare in Egitto« gespielt. Aber Zuschauerrekorde erlebt die Komische Oper gerade durch Operetten wie Nico Dostals »Clivia«, Abrahams »Ball im Savoy« oder Offenbachs »Schöne Helena«. Dabei verweist Kosky gern auf die Geschichte des Hauses, des einstigen Metropol-Theaters, an dem Revuen und alle wichtigen Operetten der Zeit gespielt wurden, bis die Nazis das jüdisch geprägte Genre »arisierten« und den Großteil der Darsteller, Komponisten und Librettisten in die Emigration oder den Tod trieben. So ging eine Unterhaltungskultur unter, die für Kosky hauptstädtisch geprägt war: »Der Humor ist sehr berlinerisch: dekadent, erotisch, ironisch, oft schmutzig. Große Tanznummern, große Jazznummern, Tango, Rumba, Foxtrott – alles, was man in den Roaring Twenties auf der Straße gehört hat, kam plötzlich ins Theater.« Und wurde nach 1933 ebenso plötzlich herausgekehrt.
Zwar kehrten nach dem Zweiten Weltkrieg manche Operetten von jüdischen Komponisten wie Emmerich Kálmán oder Paul Abraham auf deutsche Bühnen zurück – allerdings in eigenmächtigen Arrangements, in denen vor allem die Jazzelemente und Frivolitäten der Texte ausgebrannt wurden. Die Interpreten der Nachkriegszeit taten ein Übriges, um den kessen Witz mit Heile-Welt-Gefühl zu überpinseln. »Peter Alexander oder Anneliese Rothenberger waren letztlich der Tod der Operette«, bilanziert Ulrich Peters: »Die wurde so asexuell, wie es die fünfziger und sechziger Jahre eben waren.« Sein österreichischer Kollege Josef Ernst Köpplinger, der gerade an der Rheinoper »Die Zirkusprinzessin« inszeniert hat, sieht dahinter eine doppelte Tragödie: »Erst hat man sechzig Prozent der Operettenkünstler ins Gas geschickt, dann wurden nach dem Krieg auch noch ihre Werke planiert. Alles Erotische, Homoerotische, die Travestie, das Politische, die Revue hat man der Operette genommen.«
Immerhin, in der Erkenntnis, dass es all diese Elemente gegeben hat, haben sich in den letzten Jahrzehnten Regisseure, Dramaturgen, Musikwissenschaftler auf die Suche nach der »originalen« Operette am Beginn des 20. Jahrhunderts gemacht. Barrie Kosky ließ für seinen Berliner »Ball im Savoy« (1932) die ursprünglich Jazz-durchpulste Musik rekonstruieren – die Neufassung wird jetzt vom Theater Hagen nachgespielt.
Auch in der Duisburger »Zirkusprinzessin« kann man wieder »schmutzige Instrumente« wie Drumset oder Banjo hören. »Wir arbeiten da im Moment wie die Alte-Musik-Szene«, sagt Anne do Paço, Dramaturgin der Rheinoper, »graben die Originalpartituren aus, studieren die Aufführungspraxis an den großen Operettenhäusern und sehen uns die originalen Libretti an, die noch nicht durch Bearbeitungen der letzten 50 Jahre verkleistert sind«.
Manchmal freilich muss man nicht nur Theaterunsitten wegkratzen, sondern überhaupt eine spielbare Fassung herstellen. 1936 hat der aus Berlin vertriebene Paul Abraham in Budapest sein Fußball-Vaudeville »Roxy und ihr Wunderteam« herausgebracht – eine Anspielung auf die österreichische Nationalmannschaft der frühen dreißiger Jahre, das in die Sportgeschichte einging. Für die deutsche Erstaufführung (!) von »Roxy« hat der Dortmunder Philharmoniker Matthias Grimminger zusammen mit Henning Hagedorn die Handschriften gesichtet und auch die zeitgenössische Verfilmung »3:1 für die Liebe« miteinbezogen – ein Titel, der auch heutigen Fangesängen von Borussia Dortmund gut anstände.
Der Wiener Thomas Enzinger muss in seiner »Roxy«-Inszenierung den Spagat zwischen dem Witz der dreißiger Jahre und heutigem Lebensgefühl hinbekommen. Er hat lange Erfahrung mit der leichten Muse, ob er sich über das Label »Operetten-Sepezialist« freut, darf bezweifelt werden. Sein Kollege Josef Köpplinger beklagt jedenfalls den schlechten Ruf, den man hierzulande als Operetten-Regisseur hat: »Man traut einem, der Operette inszeniert, einfach keinen Schnitzler oder Strauss oder Wagner zu«. Was der Dortmunder Intendant Jens-Daniel Herzog bestätigt. »Wenn man Unterhaltung macht, kann man bei der Kritik nur verlieren. Je perfekter eine Inszenierung das Genre bedient, desto mehr wird ihr Oberflächlichkeit vorgeworfen.« Dann erzählt er die Anekdote, wie er als kleiner Junge in Berlin einmal neben den berühmten Theaterkritiker Friedrich Luft saß, der sich in der Operette ausschüttete vor Lachen – und am Morgen danach eine bitterböse Kritik lieferte.
So lastet noch heute auf der Operette eine Art deutsche Verkrampfung vor dem Unterhaltsamen, die sich erst allmählich zu lösen scheint. Auch Opernregisseure nehmen die Operette ernst, weil sie wissen, wie schwer es ist, das Timing und den Fluss zwischen Sprache, Gesang und Tanz herzustellen. Aber erst wenn auch »Nicht-Spezialisten« wie Peter Konwitschny, Barrie Kosky oder Dietrich Hilsdorf (er wird in Gelsenkirchen Kálmáns »Csárdásfürstin« inszenieren), sich der Operette annehmen, wird das szenische Handwerk nicht mehr zum Selbstzweck. Mehr als früher scheinen Intendanten bereit, für den gelungenen Operettenabend etwas springen zu lassen. In Berlin setzt Kosky auf opulente Bühnenbilder und Stars wie Dagmar Manzel oder die Geschwister Pfister. Aber auch die knapper budgetierten NRW-Bühnen leisten sich Gastdarsteller, die sich mit der Mischung zwischen Sängerfest, Kabarett, Volkskomödie und Revue auskennen.
Ob das Publikum aus dem Alltag der Schreckensmeldungen gerissen und verzaubert werden soll, wie es Josef Köpplinger für »Die Zirkusprinzessin« anstrebt, oder ob auch die Operette über den Zustand der Welt aufklären kann, bleibt eine Frage des Temperaments und der künstlerischen Sozialisierung des Regisseurs. Entscheidender ist, dass man Operette und Musical aus Ecke der Pflichtunterhaltung für Alt und Jung herausholt und sie als künstlerische Herausforderung begreift. Die oft vermisste gesellschaftliche Relevanz stellt sich dann von selbst ein. »Überlebt und gegenstandslos«, schreibt Volker Klotz im Operetten-Handbuch, »wäre die Operette erst dann, wenn ihre kecken Glücksforderungen eingelöst und die Objekte ihrer unartigen Angriffe verschwunden wären. Das ist nirgends der Fall. Im Gegenteil.«