TEXT: REGINE MÜLLER
Die Minnie hatte sie am Abend zuvor an der Wiener Staatsoper gesungen, als sie sich morgens am Telefon mit überraschend tiefer Sprechstimme meldet: »Stemme« klingt fast tenoral, und auch ihr entspanntes Lachen ist guttural behaglich, ohne die stimmschonende Künstlichkeit und auf Sopran-Klang getrimmte Affektiertheit manch einer Kollegin.
An Nina Stemmes Karriere ist alles außergewöhnlich: ihr Werdegang, ihr Repertoire, ihre stete Entwicklung und die Unversehrtheit der Stimme auch nach Jahren im heiklen Fach des Hochdramatischen. Die 1963 in Stockholm geborene Sopranistin entdeckte ihre Stimme spät, spielte erst Klavier und Bratsche und sang in Chören. Aber erst bei einem Austauschjahr in den USA wurde ihr klar, dass ihre Stimme mehr konnte: »Ich habe vorher meine Stimme überhaupt nicht gemocht und war total schüchtern. Aber dann habe ich mit einer Audition in der High School die zweithöchste Punktzahl von 2.000 Studenten erreicht. Da war ich fast geschockt.«
Dennoch studierte sie zunächst Betriebs- und Volkswirtschaft, bewarb sich aber parallel mehrfach an der Opernhochschule ihrer Heimatstadt. Erst beim dritten Anlauf klappte es. Sie dachte: »Jetzt wird es ernst. Das Wirtschaftsstudium habe ich nicht mehr beendet. Und das auch nie bereut!«
Spektakulär an Stemmes Karriere ist vor allem das Unspektakuläre. Keine Skandale, keine Krisen, kaum Absagen. Die Stimme der 51-Jährigen klingt rund und weich, ihre imposante Größe gestaltet sich völlig organisch aus einem ruhigen, fließenden Legato heraus. Sie ist neben enormer Durchschlagskraft zu feinsten Lyrismen fähig, besitzt atemberaubend präzise Attacke und bleibt selbst in der Höhe warm. Von den typischen Krankheiten des Hochdramatischen bleibt Stemmes Sopran verschont – schlägt nicht in unkontrolliertem Vibrato aus, wackelt nicht, ist in der Höhe weder scharf noch schrill.
Als Anfängerin, erinnert sie sich, »hatte ich eine sehr scharfe Höhe! Ich musste meine Technik komplett umstellen und habe in der Opernhochschule wieder bei Null angefangen. Das war schwierig, aber hat sich gelohnt. Ich habe lange in der Höhe nur piano und pianissimo gesungen und den lyrisch runden Ton gesucht. Ich glaube, das hat mir sehr geholfen.« Noch heute profitiert Stemme von ihrer lyrischen Vergangenheit. Sie versucht, »lyrische und italienische Partien so lange wie möglich im Repertoire zu behalten. Nicht so einfach, denn mit jedem Schritt verändert sich die Stimme. Und manchmal führt kein Schritt mehr zurück.« Seit Jahren abonniert aufs hochdramatische Fach, ist sie Brünnhilde und die Isolde, immer und immer wieder, in Glyndebourne, Bayreuth, Zürich, London, Paris, San Francisco, Houston …
Puccini singt sie aber nicht nur, um sich zu erholen von Wagner. Sie findet, Fanciulla sei »eine italienische Walküre, sehr, sehr dramatisch«. Aber sie habe eben auch viele lyrische Momente, und das mache es umso schwerer. Stemme zeigt in ihrem Überlegen, wie sehr Kunst Handwerk und Technik ist: »Aber wenn ich das richtig singe, überträgt sich das auch aufs deutsche Fach. Die tiefere Tessitura dort verführt dazu, dass man schnell zu breit singt. Das ist nicht gesund und man verliert dadurch die Jugendlichkeit der Stimme«.
Taufrisch klingt die Stimme noch immer, ihre Strauss-Salome hat sogar etwas Mädchenhaftes, ohne dass sich die Interpretin verstellen müsste. Um die Kontrolle über ihre Stimme nicht zu verlieren, lässt sie sich regelmäßig coachen und holt sich Rat bei ihrem Gesangslehrer in Stockholm, wo sie mit ihrem Mann, einem Bühnenbildner, und den drei Kindern lebt. Sie »brauche jemanden von draußen, der mich hört«.
Unter den Regisseuren der Königsklasse arbeitet sie besonders gern mit Christof Loy zusammen, »weil er so musikalisch ist und die Tiefen der Charaktere so sorgfältig ausleuchtet«. Sie schwärmt: »Er kennt jedes Wort, ob es Italienisch oder Russisch oder sogar Tschechisch ist. Und wie er es schafft, Stimmungen auf der Bühne zu erzeugen, ist wunderbar.«
Derzeit bereitet Nina Stemme sich auf Strauss’ Elektra vor, ihr Rollendebüt findet im kommenden Frühjahr an der Wiener Staatsoper statt, Uwe Eric Laufenberg inszeniert. »Um jede neue Partie kreise ich wie um einen heißen Brei. Wie ein Tier. Ich weiß immer zuerst nicht, wo ich anfangen soll. Aber im Grunde versuche ich immer herauszufinden, was für den Komponisten am wichtigsten war an der Figur. Dann gehe ich zu einem Korrepetitor und dann geht es ziemlich schnell. Aber zwischendurch nehme ich mir viel Zeit.«
Vor ihrem Durchbruch war Stemme fast fünf Jahre lang an der Kölner Oper engagiert: »eine sehr gute Zeit. Ich durfte viele lyrisch-dramatische Partien ausprobieren und habe sogar meine erste Sieglinde gesungen. Ich konnte das damals kaum glauben, nachdem ich dort als Pamina in der ›Zauberflöte‹, inszeniert von Andreas Homoki, begann. Wobei ich die in meiner Entwicklung damals schon hinter mir gelassen hatte«.
Den Höhepunkt ihrer internationalen Karriere hat Nina Stemme, die 2012 zur »Sängerin des Jahres« in der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Opernwelt gekürt wurde, erreicht, die großen Wagner-Heroinen wurden von ihr erobert. Was bleibt noch offen? »Vielleicht ist die Partie ja noch gar nicht geschrieben?«, überlegt sie scherzhaft: »Nein, im Ernst, was soll nach der Elektra wirklich noch kommen? Aber es ist kein Endpunkt, mit solchen Partien kann man jahrelang leben, kann sie weiter vertiefen. Ich habe mich früher gefreut auf eine Zeit, in der ich mich zurücklehnen kann und genießen, was ich kann. Aber diese Phase kommt nicht. Ich lerne immer weiter.«