TEXT: ANDREAS WILINK
KÖLN
Man kann auf der Theaterbühne die Film-Leinwand so oder so aufziehen. Im Depot 1 des Schauspiels Köln verdoppelt sich unser Blick auf Lars von Triers »Dogville«-Parabel – und macht ihn bohrend. Das Theater wird filmisch, indem es die Figuren gewissermaßen ins Dreidimensionale überträgt und in großer, perspektivisch gebrochener Spiegelung über dem Bühnen-Plateau dupliziert. So werden alle Personen dieser Bilderbuch-Besetzung, deren Gesamtheit endlich einmal in Stefan Bachmanns Intendanz das Prädikat Ensemble verdient, wobei sie in der Gruppe mehr und besser sind, als jeder für sich genommen, zu ihrer eigenen Projektionsfläche. Und Teil des kollektiven Reflexions-Instruments. Schablonen, die ein Erzähler über die Video-Abbilder der Figuren schiebt, weisen ihnen Flecke im Raum zu, heben sie hervor und machen sie gleichzeitig klein, zeigen sie in Großaufnahme und legen sie wie Bazillen unters Mikroskop. Es ist die »Technik der Veranschaulichung«, die Tom Edsion als angehender Schriftsteller propagiert und die er, konkret und endgültig, schließlich am eigenen Leib erfahren wird.
Den experimentell modellhaften Konstrukt-Charakter betont Bastian Krafts in ihrer beherrschten Klarheit kluge Inszenierung – ruhig, aber nicht behäbig, nachgiebig und doch widerständig, exakt die Vorlage ausformulierend, aber eigensinnig. Am Ende werden im Kölner »Dogville« die Schatten länger. Die Spiegelwand erfasst die Zuschauerreihen. Grace, die bei Katharina Schmalenberg als Rächerin zu einer anderen Seeräuber-Jenny mutiert und erst in diesem Moment aus der passiven Duldung und Selbst-Bestrafungsfantasie heraustritt, verlässt den Spielraum und setzt sich mitten unter uns neben ihren Vater, den Gangsterboss (Martin Reinke) und diskutiert mit ihm den moralischen Rigorismus und die Idee der Macht, die ins Totalitäre mündet. Grace hat ihre Wahl getroffen. Das Weitere liegt im Auge des Betrachters.
DORTMUND
Hamlet hybrid. Die Frage »Was ist der Mensch?«, was seine Quintessenz, stellt sich Hamlet auch in Dortmund. Aber was seinen Regisseur von dem Prinzen unterscheidet, ist, dass Kay Voges um eindeutige Antwort nicht verlegen ist: Jemand, der um seine Persönlichkeitsrechte gebracht wird, die am Anfang der alte Vater-König (als lachhafter Märchen-Popanz) bei einer Fernsehansprache ans Volk vorträgt, bevor es ihn dahin rafft. Dänemark meint auf der Dortmunder Bühne bzw. auf der darüber gespannten Leinwand alles: die ganze schlimme überwachte Welt, alle Krisengebiete, alle Kriegsschauplätze, überall, wo eine Demo stattfindet oder ein Aufstand, Revolte losbricht, Party gefeiert wird, Gameshows laufen. Aber Gaza und Israel, um nur eines der wie auf NTV abgespielten Beispiele zu nehmen, als konkrete Metapher für eine weder analytisch ergiebige noch narrativ stringente Inszenierung zu nutzen, ist ebenso wohlfeil, wie ein Foto von Julian Assange an die Kulissenwand zu pinnen und in einem Theoriebegriff-Schwall (des Polonius, hier eine Art Frankenstein) den Namen Snowden fallen zu lassen. Ja, und?!
Hamlet im schwarzen Top und Batman-Schnalle am Gürtel ist ein Material Girl mit großer Brille und in Person von Eva Verena Müller die einzig erwähnenswerte Schauspielerin. Er/Sie (Gender!) flennt im Kinderzimmer in einem Haufen Plüschtiere, wo ihn/sie auch die Kugel ereilen wird, tobt durch einen OP-Saal, ein TV-Studio, ein Wohnzimmer: Schaltzentralen, in die Kamera-Augen blicken, die uns das Gesehene jeweils per splitscreen vervielfältigen, was Daniel Hengst in bewährter Dortmund-Dogma-Video-Live-Schnitt-Methode besorgt. Bilderbewurf mit Hall und Schall, flüchtig, unscharf, verzittert. Dafür, dass die Theatermacher derart penetrant ihr Bilder-Misstrauen ausstellen, sind sie ganz schön versessen auf die mediale Re-Produktion. Was Voges da treiben lässt, ist vermutlich nicht beliebig, sondern sehr konzeptuell. Allein, es bleibt öde. Die Figuren-Koordinaten des Dramas dienen auf dieser Matrix zu nichts weiter, als eine reale Fantasie von Kontrolle, vom großen Lauschangriff, von Datenspeicherung, Programmierung und algorithmischen Formeln, Bits and Bytes etc. zu entwickeln (vom Beiheft in 50 Schlagworten aufgelistet). Die Schauspieler- bzw. Rosenkranz- und Güldenstern-Szenen, verteilt auf zwei Darsteller, die als Ernie und Bert oder in lustigen Ganzkörpertierfellen auftreten, stellen selbstverständlich auch das Modell Spiel zur Schau, in Abrede und auf die Probe. Ach, ja.
BONN
Der Anfangs-Monolog ist (wie noch so manch anderes später) nicht von Tschechow, sondern von Billy Wilder, bei dem William Holden ihn als Wasserleiche spricht, die im Pool am »Sunset Boulevard« schwimmt. So erzählt sich am Theater Bonn die Geschichte vom Ende her: Kostjas Ende, der sich erschießt. Aber nicht als stilbewusstes Melodram inszeniert Sebastian Kreyer – ohne Zusatz von Intelligenz, verwitzelt, mit Popsongs verdudelt, dümmlich aktualisiert – »Die Möwe«, sondern als verlängerten Sketch auf Comic-Niveau. Soap-Sound schwappt in den Godesberger Kammerspielen über eine Motel-Anlage mit Treppen-Galerie zu den Zimmern, Terrassenmöbeln und ein paar Palmen. In einem der Räume sitzt jemand an der Schreibmaschine und blättert in Büchern: Trigorin – hier eine Art Sebastian Koch des routinierten Literaturbetriebs, der in Kostjas für Nina geschossene Möwe sogleich die »Cashcow« sieht, weil ihm durch sie die Idee zu einer Erzählung anfliegt. Die Arkadina rauscht herein als Tingeltangel-Soubrette, albern schrill kostümiert wie für eine Agatha-Christie-Verfilmung: Tod auf dem Ni-hi-l. Nichts zu bedeuten all das. Ein Gutes mag die Aufführung gehabt haben: Ninas Monolog aus Kostjas Neuem Theater bleibt so stumm wie seine Interpretin dabei unsichtbar.
ESSEN
Ein weiß gekleidetes, arisch blondiertes Odysseus-Sextett, an einer Tafel Mahlzeit haltend, bricht schnell mit den Regeln guten Benehmens. Spricht mit vollem Mund und zudem nicht den klassischen Homer. Schon nach wenigen Minuten werden im Essener Grillo-Theater chorisch die deutschen Sekundärtugenden aufgerufen. Es braucht 14 Stationen, um Odysseus zum rationalen, Triebverzicht leistenden, hierarchisch denkenden, ökonomisch effizienten, das männlich überlegene Prinzip vertretenden, heimatverbundenen Bürger (West-)Europas zu machen. Volker Lösch schließt den Sieger von Troja mit dem südosteuropäischen Fahrenden Volk kurz, das als »Zigeuner« nicht nur in einem aus dem 19. Jahrhundert überlieferten Volkslied firmiert, von dem die Aufführung ihren Untertitel nimmt: »Faria, Faria, Fum«. In dieses dramaturgische Thesenpapier ist die szenische Narration verpackt, wobei es zwischen Tara und Netto-Gewicht zu erheblicher Differenz kommt.
Der zivilisierte Herrenmensch begegnet unterwegs dem Anderen. Diese Barbaren hat Lösch – nicht in astreiner Logik, eher schablonenhaft – mit den Parias Europas »original besetzt«. Sechs weißen Schauspielern (»Gadsche«) stehen sechs Sinti- und Roma-Darsteller aus Deutschland, Österreich und der Schweiz gegenüber. Odysseus selbst also ist der Unbehauste, während das mythische Gegen-Personal, die angeblich nicht sesshaften »Zigeuner«, seinen Lebensraum gegen den Eindringling, zumeist vergeblich, verteidigt. Dies die erste produktive Brechung eurozentrischer Perspektive. Die Absicht, Klischees kenntlich zu machen, indem man sie reproduziert und mit ihnen dialektisch aufgeklärt spielt, gelingt in den Homer-Episoden weniger, als in Intermezzi und Einschüben, die die Handlung zum Arretieren bringen.
Laut, bunt, lustig: Im Innern eines rotierenden Spitzdach-Hauses (Bühne: Carola Reuther) tanzen die »Zigeuner« als bekiffte Blumenkinder-Lotophagen. Sie blähen den Zyklopen Polyphem zum Prekariats-Fettsack auf, machen Skylla und Charybdis zur Bettlerbande, die Sirenen zu Bauchtänzerinnen und die Nymphe Kalypso zur Black Beauty, multiplizieren Kirke zum Frauenpower-Rap-Trio und erwecken im Hades die Nachfahren der KZ-Opfer. Während das Odysseus-Team als Schlager-Fuzzi, Gangster-Macker, Stammtisch-Bruder, Burger-King, Grundgesetz-Vertreter, Natural Born Killer Austern schlürft, Parolen stanzt, sich in der Vernichtungsstrategie Toleranz übt, von »Umsiedlung« pöbelt oder Betroffenheits-Prosa absondert, damit uns dieses Spiegelbild auch herzlich nah und unangenehm erscheint, haben die Sympathie-Träger die besseren Argumente. Die sechs Experten ihres eigenen Asyl-Alltags liefern Erfahrungs-Berichte, Diskriminierungs-Reporte, Anamnesen (»Vernichtungsangst«), fordern die Strukturanalyse ihrer Situation und listen an ihnen haftende Attribute auf: faul, unsauber, diebisch, hässlich etc. Dabei haben die drei Frauen und drei Männer ein feines Sensorium für eigene Widersprüche, Defizite, fixierte Geschlechtermuster und die Ambivalenz von Selbsthass und Stolz, Rebellion, Repression und Affirmation. Dass Zuschreibungen nicht eindeutig sind, zeigt momentweise der perfekte Rollentausch, wenn die Dunkelhäutigen in den Masken der Bleichgesichter auftreten. Bei der im Rausch kritischen Bewusstseins formal eher ausgenüchterten Intensivkur geht es zu wie in einem anarchischen Kinderladen. Löschs Impuls-Theater ist so plakativ wie das aus Farbbeuteln sich verspritzende Blut der Freier Penelopes, die der rächende Gatte abknallt. Und damit das Fremde ausmerzt.
BOCHUM
Reibung erzeugt Wärme. Man kann sie sich auch selbst beschaffen. Die Haut juckt, man muss sich kratzen oder die Beine scheuern, wie es der ehemalige Gutsbesitzer Telegin und auch die junge Frau Elena tun. Aber was wäre schon groß dabei, sich von einem fremden Körper, gleich welcher Art, anfassen zu lassen? Wenn es nur die Temperatur erhöht, die Illusion von Nähe erzeugt, das quälende Gefühl beendet. Aber nein, das geht nicht und ekelt bloß, wenn der eine Reiz nicht mitspielt: die Anziehung, die Lust, das Begehren. Elena ekelt es vor Wanja, so dass sie nicht einmal seinen Handkuss aushält, ekelt es aber auch vor ihrem eigenen Mann, dem alten Professor. Mit Astrow, dem Arzt, wäre es etwas anderes. Sie reißt ihm zum Abschied die Sachen vom Leib. Ihn wiederum liebt Sonja, Wanjas Nichte, schmerzlich vergebens. Und Astrow streckt sogar die Hand aus nach Telegin und führt sie unter dessen Hemd, als wolle er dort etwas ertasten, das ihm bislang unbekannt war.
Unruhige Geister sind es, die im Schauspielhaus Bochum für Anton Tschechow seitlich vom Parkett über eine Eingangstür auf die Bühne kommen und an der Rückwand aufgereiht Platz nehmen, neben sich die Kleiderstangen. Wobei nicht nur Angela Schanelecs Übersetzung (nach Arina Nestieva) an die Gosch-Methode erinnert, ohne deren lässige Gespanntheit zu erreichen. Ständig haben sie zu hantieren und zu sortieren, müssen sie sich beweglich halten, sich strecken, mit den Gliedmaßen schlenkern, über Bohlen stolpern, in einer Pfütze ausgleiten, sich umkleiden. Man möchte ihnen zurufen: »Nicht so viel fummeln, Liebling!« Im braun gemaserten Bühnenkasten (Oliver Helf) stehen Metallstreben, die eine Balken-Konstruktion stützen. Kein Dach, keine Wände, weder Tür noch Fenster. Nur das Baugerüst, ein Wald aus Gitterstäben, durch den alle Acht staksen wie Rilkes lyrischer Panther und den sie umwandern, gehetzt, manisch, wie auf der Flucht. Auch offene Weite kann beengen. Ein absichtsvoller Raum: Kein Obdach, kein Schutz. Nichts Festgefügtes. Ebenso vorsätzlich ist Stephan Kimmigs Inszenierung darin, die Figuren zu Getriebenen zu erklären. Das seelische Leiden ist bei ihnen eine physische Angelegenheit. Man reibt sich wund – ein einsames Geschäft.
Kimmig schafft seinen Käfig-Kreaturen ein stickiges, kurz vor der Entladung stehendes Klima. Auf die lähmende Tiefdruckzone reagieren die Charaktere mit erhöhter Betriebstemperatur, die ihnen zwar Farbe gibt, sie aber auch auszehrt. Es ist wie eine von außen verordnete Injektion: Der Regisseur spritzt sie halbtot. Die sich gymnastisch verrenkende, wie auf die Folter gespannte Elena (Therese Dörr) trifft es am ärgsten. Telegin muss als Musikus seine Bühnenexistenz fristen. Felix Rech lässt Astrow in Energie-Schüben elastisch dagegen ankämpfen. Peter Lohmeyers Professor Alexander, in scheußliche Freizeitmode gekleidet, hat sich der Schwäche ergeben, so dass selbst sein hypochondrischer Egoismus sich auflöst. Am Eindrücklichsten behauptet sich Werner Wölbern: Gezwängt in seinen von Anzug, Weste und Mütze umschlossenen gedrungenen Körper, findet sein Wanja als verschnürtes Kraftpaket kein Ventil für Sehnsucht und Wut, wird darüber zum Weltverächter, Misanthropen, Beinahe-Mörder und Beinahe-Selbstmörder und steht doch hart an der Scheidelinie zur komischen Figur. Am Ende sitzen er und Sofja (Minna Wündrich) – überdeutlich – an ihren Rechnungen. Alle Maßnahmen zur Lebensverlängerung: Ruhe, Geduld und Ergebenheit, Abschied und Trennung, Arbeits-Therapie oder Flucht-Impuls sind kurios unwahr. Aber es gibt kein böses Erwachen mehr.
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