TEXT: ULRICH DEUTER
Im Sommer 1960 fanden in der Wüste von Nevada die Dreharbeiten für den John Huston-Film »The Misfits« statt. Die Agentur »Magnum Photos« hatte sich die Exklusivrechte für die Standfotografie gesichert, ein damals von den Produktionsfirmen gern genutztes Verfahren, um einen neuen Film zu promoten sowie seine Entstehung zu dokumentieren. Neun Magnum-Fotografen kamen nacheinander an den Set, darunter der Agentur-Mitbegründer Henri Cartier-Bresson. Zuletzt traf Eve Arnold ein, die seit 1951 für Magnum arbeitete und sechs Jahre später als erste Frau Vollmitglied geworden war – eine Fotoreporterin, die ihre damals schon legendäre Befähigung, den Menschen nahe zu kommen und ihre Berührbarkeit zu zeigen, ohne sie bloßzustellen, nicht zuletzt in zahlreichen Fotos von Marilyn Monroe bewiesen hatte. Und Monroe spielte in »Misfits« die »nicht gesellschaftsfähige« Tänzerin Roslyn.
»MM« hatte Eve Arnold Anfang der 50er Jahre kennengelernt, die Aktrice hatte die Aufnahmen gesehen, die die Fotografin 1952 von Marlene Dietrich in einem Tonstudio von Columbia Records angefertigt hatte, Porträts, die weit hinter den stets sorgsam gehüteten Oberflächenglanz der Diva gelangten. »Wenn es Ihnen mit Marlene so gut gelungen ist«, sagte nun Marilyn Monroe zu Eve Arnold, wie diese sich später erinnerte, »können Sie sich vorstellen, was Sie mit mir machen würden?« Vermutlich konnte Arnold nicht, denn sowohl sie als auch die Schauspielerin standen damals noch am Anfang ihrer Karrieren. Doch es folgte eine intensive Arbeitsbeziehung zwischen beiden Frauen; die rasch berühmt werdende und von den Medien, ihren Agenten sowie sich selbst zu einer überwirklichen Sex-Ikone modellierte Monroe erscheint auf den Fotos, die Arnold während zehn Jahren auf Sets oder privat von ihr machte, von einer anderen, einer gewissermaßen erreichbareren Schönheit; erscheint angreifbar, versunken, erschöpft.
Jetzt in der Wüste von »Misfits« ist alles Erschöpfung. Das Thermometer zeigt bis zu 50 Grad, MM ist angeschlagen vom sechsmonatigen Dreh des Musicals »Let’s Make Love« zuvor, ihre Ehe mit Arthur Miller steht kurz vor dem Ende, der Dramatiker, der das Drehbuch geschrieben hat, ist mit am Set und bändelt mit der Magnum-Fotografin Inge Morath an. Marilyn Monroe trinkt und vergrößert ihren Tablettenkonsum wie ihre Verspätungen. Aber auf dem Farbfoto, das Eve Arnold von ihr macht, wehen ihre blondierten Haare wie im schmeichelnden Wind, die roten Lippen formen sich zu einem Hauch flirtigen Küssens, der Blick spielt mit dem Schlafzimmer. Zu diesem Zeitpunkt hat Monroe gegenüber Arnold das reflexhafte Anschalten ihres Standardgesichts, sobald eine Kamera auftaucht, längst aufgegeben, es scheint vielmehr so, dass die Pose, die ihre öffentliche Rolle markiert und die sie hier mehr andeutet als einnimmt, ihr dazu dient, sich aufzurichten, festzuhalten in einer für sie qualvollen Lage. Und Arnold unterstreicht die Zweifelhaftigkeit der Situation, indem sie den Hintergrund in extremer Unschärfe versinken und Monroes Figur in Weite und Leere isoliert sein lässt. (Es wird der letzte Film der Schauspielerin sein.)
Man muss dieses Double-Bind-Foto sehen: das zum kollektiven Inbild gewordene Verlockungsgesicht über vor der Brust verschränkten, abwehrend sich selbst schützenden Armen. Man kann es sehen gleich im ersten Raum einer Hommage an die Magnum-Fotografin in der Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, kann dort auch viele der andern Fotos sehen, die Eve Arnold von Monroe, meist schwarz-weiß, gemacht hat: Vorwiegend in Abzügen von etwa DIN-A4- oder A5-Größe hängen sie zahlreich und gut präsentiert auf drei Etagen. Daneben die Fotos anderer Schauspielstars, die Arnold mit ihrer Kamera gleichsam in ihrem Innern besuchen kam: Richard Burton mit Elizabeth Taylor (in »Becket«, 1963): ganz zart und still das Gesicht der Taylor, lebhaft sprechend ihre Hand; Sophia Loren mit Charles Chaplin (am Set von »A Countess from Hong Kong«, 1966), Monica Vitti, Jean Simmons, Anthony Quinn, Anouk Aimee. Und Isabella Rossellini bei den Aufnahmen von »Blue Velvet«, 1985. (Sie alle hier zu zeigen, verbieten leider die strengen Bestimmungen der Magnum-Agentur gegenüber der Presse.) Technisch »hergestellt« wird das Intime all dieser Bilder mit viel Umgebungsunschärfe sowie dadurch, dass keiner der Fotografierten in die Linse blickt. Darüber hinaus aber besitzt die Porträtistin die Fähigkeit, bei ihren Modellen Vertrauen zu wecken; ist über Stunden da und unsichtbar. Vor allem jedoch hat sie die Gabe, im von ihrem Kollegen Cartier-Bresson so genannten »entscheidenden Moment« auf den Auslöser zu drücken.
1912 war Eve Arnold als Tochter russisch-jüdischer Einwanderer in Philadelphia geboren worden. Neben ihrem Brotberuf als Buchhalterin studierte sie an der Abendschule Medizin. Doch ihr Wunsch, Ärztin zu werden, verschwindet, nachdem ein Freund ihr eine Kamera – eine Rolleicord – schenkt. Sie zieht nach New York, beginnt einen Job als Fotolaborantin und belegt 1948 einen Fotografie-Kurs an der New School for Social Research bei Alexey Brodovitch, dem Art Director der Modezeitschrift Harper’s Bazaar. Dass dieses sechswöchige Studium in ihrem Fall ausreicht, beweist Arnold durch die Meisterschaft ihrer ersten Fotoserie, die sie von Modeschauen in Bars in Harlem macht, wo die schwarzen Mannequins ihre selbstgeschneiderte Kleidung präsentieren. Völlig konträr zur gängigen Modefotografie tragen die Bilder eher Schnappschusscharakter, die Models blicken nie in die Kamera, sind mit irgendwas beschäftigt, für sich oder miteinander, zu sehen sind nicht die Kleider, sondern die Frauen, ihr Vergnügen und ihr Selbstbewusstsein. Bereits so früh ist Arnolds Fähigkeit zu erkennen, der Oberfläche den Glanz abzuziehen.
Viele ganz wunderbare Bilder hängen da in Oberhausen: Lichtbilder, Gesichterbilder, Seelenbilder. Gemeinsam haben sie, ob farbig, ob schwarz-weiß, die Leuchtkraft spürbarer Stille; ein Beisichsein der Porträtierten. Ob es der »Black Muslims«-Alphamann Malcolm X ist, dessen Selbstinszenierung als Pop-Politiker die Fotografin zeigt und zugleich bricht (Arnold spricht irritiert von der »wechselseitigen Manipulation zwischen Modell und Fotograf«); ob es die alternde Filmdiva Joan Crawford ist, die sie beim mühevollen Herstellen von Makellosigkeit in der Garderobe fotografieren darf (was ein Mann sicher nie hätte zeigen dürfen).
1962 zieht Arnold nach London und beginnt dort für die Sunday Times zu arbeiten, zwischen 1969 und 1971 bereist sie Afghanistan, Ägypten und die Arabischen Emirate für ihre Reportage »Hinter dem Schleier«; 1979 ist sie monatelang in China. Ihre durchgängig farbigen Reportagefotos zeigen dieselbe menschliche Tiefenschönheit und Berührbarkeit jenseits der sozialen Rolle. Da sieht man z.B. zwei Männer aus der Inneren Mongolei hintereinander stehen, zwei traditionelle Ringer in bunter Kleidung und mit breiten Lederbändern um Bauch und Arme. Drei Jahre nach der Kulturrevolution inszenieren sie sich wie proletarische Helden auf sozialistischen Propagandaplakaten mit herausgedrückter Brust und fest in leuchtende Ferne gehendem Blick. Doch etwas in ihrem Gesichtsausdruck lässt die kleinen Jungs durchblicken, Träume aufscheinen. Und schließlich steht da ja auch noch ein Schaf und blickt in dieselbe, wahrscheinlich bloß heimatliche Weite. Sie sei »die unauffällige Fliege an der Wand, die alles beobachtet, ohne sich einzumischen«, hat ihr Magnum-Kollege Elliot Erwin über Eve Arnold gesagt. 2012 ist sie, kurz vor ihrem 100. Geburtstag, in London gestorben.
Bis 7. September 2014. Tel.: 0208/412 49 28. www.ludwiggalerie.de