Der berühmte Bademantel bleibt diesmal im Schrank. Heute trägt Chilly Gonzales, was man von einem Pianisten erwartet: weißes Hemd, Weste, Anzughose. Dabei wäre ein Bademantel durchaus angebracht. Es ist schwül auf Kampnagel in Hamburg. 800 Zuschauer heizen das Theater auf, einige fächeln sich mit den Programmheften Luft zu. Man könnte Angenehmeres mit diesem Augustabend anfangen. Die Alternative liegt quasi vor der Tür. Im Hinterhof feiert Kampnagel sein Sommerfest – mit bunten Lampions, Weißwein und Bio-Würstchen. Der Grillmeister hat wenig zu tun. Seine Klientel sitzt lieber in der dunklen Halle und schaut zu, wie ein Mann seinen Schatten verliert. Es muss an Chilly Gonzales liegen. Der Kanadier ist ein ziemliches Phänomen in diesem Jahr.
»The Shadow«, das neue Theaterstück, ist nur ein Projekt von vielen. Gerade hat der 42-Jährige eine hochgelobte Platte herausgebracht. »Re-Introduction Etudes« besteht aus 24 einfach nachzuspielenden Stücken. Das Album richtet sich an ehemalige Klavierschüler, die irgendwann aufgehört haben zu spielen – weil sie das Instrument zu schwer fanden, den Unterricht zu dröge oder beides. »Re-Introduction« soll den Spaß am Piano zurückbringen. Wer will, bekommt sogar Live-Unterricht vom Maestro. Die sogenannten »Masterclasses« finden in fünf Ländern statt. Sie sind zum Großteil ausverkauft. Parallel tourt der Komponist mit seinen »normalen« Stücken zwischen Nordamerika und Europa, begleitet vom Hamburger Kaiser Quartett. Bleiben noch die Aufführungen von »The Shadow«, 17 sind es alleine in Deutschland.
Gonzales’ Triumphzug durch die Tempel der Hochkultur kommt einigermaßen überraschend. Es gab Zeiten, da schrieb der Kanadier Songs für rappende Maulwürfe. Puppetmastaz hieß das Projekt. Die Band bestand aus Latex-Tieren, die aussahen wie Ghetto-Muppets. Sie sangen von Knarren, Clubs und Koks – wie ihre menschlichen Vorbilder von Dr. Dre bis 50 Cent. Die Puppetmastaz waren eine grelle und sehr komische Persiflage auf die Klischees des Gangsta-Rap, ausgedacht von Chillys langjährigem Freund Adam Traynor. Die beiden kennen sich aus Berliner Tagen. Dort waren sie Teil eines schillernden Exilantenkreises, zu dem auch die Musikerin und Performance-Künstlerin Peaches gehörte.
Das Hauptstadtleben ist inzwischen passé. Erst zog Gonzales nach Paris, zurzeit lebt er in Köln. Der Künstler, mit bürgerlichem Namen Jason Beck, ist Umzüge gewohnt. Er hat einen kanadischen und französischen Pass, die Eltern stammen aus Ungarn. Seine eigene »Rückkehr« nach Europa hatte pragmatische Gründe: Anerkennung. In Kanada, räumt Gonzales ein, habe seine Genre-übergreifende Kunst nicht recht gezündet. »Was Du machst, passt besser nach Europa«, rieten ihm Freunde.
MAD MUSICAL GENIUS
Blieb die Frage, wohin die Reise musikalisch gehen würde. Lange Zeit verdingte sich Gonzales vor allem im Pop-Bereich. Er schrieb Songs für Indie-Musiker wie Feist oder Mocky, stand mit Peaches auf der Bühne und war Gast auf dem jüngsten Album der Weltstars von Daft Punk. Für die U-Musik hat Gonzales gute Argumente. »Ich wollte immer ein Kind meiner Zeit sein«, erzählte er jüngst dem TV-Sender CBC. »Für mich sind HipHop und elektronische Musik die aufregendsten Richtungen dieser Zeit – auch, weil sie sich noch entwickeln.« Die Klassik, so Gonzales, muss sich bewegen, zugänglicher werden. Dafür müssen die Protagonisten gegebenenfalls von ihrem Thron steigen. »Ich finde das ganze Image des einsamen Klaviervirtuoso, dem alle huldigen, irgendwie albern«, gestand Gonzales dem 2013 verstorbenen Interview-Großmeister David Frost. Die Auftritte in Bademantel und Pantoffeln kann man insofern als Lockerungsübungen verstehen – für Künstler wie Publikum. Gleichzeitig nutzt Gonzalez das Klischee des erhabenen Tastengottes zu satirischen Zwecken. In Programmheften kündigt er sich gern als »mad musical genius« an, auf dem Cover von »Re-Introduction Etudes« sieht man ihn als Schattenriss im Stile des 19. Jahrhunderts, Beethoven-Tolle inklusive.
Bei allem Humor – völlig ironisch ist diese Haltung nicht. Gonzales weiß, dass er am Klavier ein Ausnahmekünstler ist. Und zeigt es auch. Im Zweifelsfall macht er seine Auftritte zu Events. Vor ein paar Jahren gab er ein 27-stündiges Solo-Konzert ohne Pause. Danach stand er im Guinness-Buch der Rekorde. Musik als Extremsport, das Bild passt. Gonzales’ Konzerte gelten (auch ohne Rekordversuch) als tours de force, bei denen sich der Pianist bis zum Letzten verausgabt. Da ist »The Shadow« keine Ausnahme.
Es basiert auf einer Kurzgeschichte von Hans Christian Andersen. Darin verliert die Haupfigur, ein »gelehrter Mann aus dem Norden«, seinen Schatten. Im Laufe der Zeit beginnt dieser ein Eigenleben. Schließlich klaut er die Identität seines einstigen Herrn. Der Gelehrte wird für verrückt erklärt, als er den Betrug aufklären will. Am Ende verliert er alles – Freiheit, Geliebte, Leben. Die Adaption des düsteren Märchens stammt von Gonzales’ Weggefährten Adam Traynor. Ihre dritte gemeinsame Arbeit nach den Puppetmasterz und der Filmkomödie »Ivory Tower« von 2010.
»The Shadow« ist Stummfilm, Pantomime, Musical und Schattenspiel in einem, Zentrum eine kleine Säulen-Rotunde. Hier sitzt das Kammerorchester, bestehend aus Gonzales am Flügel und dem Kaiser Quartett an den Streich- und Blasinstrumenten. Rechts und links sind Stoffbahnen aufgehängt, die von hinten angestrahlt werden. Ein Großteil spielt sich hinter diesen Leinwänden ab. Aus Personen und Gegenständen werden so bewegte Schattenrisse. Was sich nicht durch Gesten ausdrücken lässt, wird in Form kurzer Textpassagen eingeblendet. Ab und zu verlegt Traynor die Handlung nach vorne. Die Abstraktion bleibt – durch die bleichgeschminkten Schauspieler und die extremen, der Stummfilmästhetik entlehnten Bewegungen.
Eine Weile entfaltet dieser Mix seinen Charme. Gonzales’ undogmatischer Umgang mit Genres kommt dem Stück zugute. Hektische Szenen untermalt das Kammerorchester im Vaudeville-Stil, Slapstick bekommt den passenden »Dick & Doof«-Soundtrack, Trauer drückt sich in leisen Solo-Passagen am Klavier aus. Der emotionale Musikeinsatz hat den Beigeschmack von Musical, aber gar so pathetisch wird’s nicht – schon wegen der monochromen Optik. Problematischer ist da schon die Länge. Andersens Vorlage füllt sieben Seiten – Traynors Version zieht sich über anderthalb Stunden. Irgendwann fühlt man sich an David Finchers Film »Benjamin Button« erinnert: Mini-Vorlage, epische Interpretation. Im Gegensatz zu Fincher fällt Traynor allerdings nicht viel ein, um den Stoff zu strecken. So wirkt »The Shadow« nach der Hälfte eher wie eine mediale Nostalgieübung. Schattenrisse, Kaleidoskop-Effekte, Slapstick sind – wie die Kostüme von Hamburgs Edel-Couturier Herr von Eden – schön anzusehen und retro; tragfähig über die Dauer nicht. Komischerweise fällt mancher Aspekt des Märchens trotzdem fort, besonders die Gegenüberstellung von Vernunft und Emotion in den Figuren des Gelehrten und seines Schattens. Da fehlt es an Dialog. Das ästhetische Konzept beschränkt den inhaltlichen Spielraum. Die Handlung verflacht. Vielleicht sollte man »The Shadow« besser als szenisches Konzert betrachten. Auch wenn Gonzales zugibt, das Stück sei noch nicht »der wagnerianische Blockbuster, der es sein sollte«.
»The Shadow« Schauspiel Köln (Depot 1), ab 11. September 2014. www.schauspielkoeln.de