Sie sitzen in einem ehemaligen Wasserspeicher, die vier Mitarbeiter des Deutschen Forums für Figurentheater und Puppenspielkunst (dfp). Das Gebäude steht abseits der Bochumer Innenstadt im Stadtteil Weitmar: ein chicer denkmalgeschützter Altbau, mehr Villa als Zweckbau. Im Eingangsbereich lehnt eine fast lebensgroße, handgefertigte sizilianische Marionettenpuppe am Treppengeländer: einer der Paladine Karls des Großen. Man braucht reichlich Kraft, um diese schwere Figur per Eisenstange zu bewegen. Einen Theaterraum oder werkelnde Puppenbauer und probierende Puppenspieler aber sucht man vergeblich. Was passiert hier eigentlich?
»Förderung der Belange des Puppen-, Figuren- und Objekttheaters in ganz Deutschland«, so lautet das Satzungsziel des gemeinnützigen Vereins. Sehr spannend kreativ klingt auch das nicht. Anlaufstelle und Informationsbörse sind weitere, trockene Beschreibungen. So können Journalisten und Wissenschaftler aus aller Welt hier ihre Anfragen stellen, beispielsweise nach der Puppentheaterszene in der NS-Zeit. Können in der hauseigenen Biblio- und Mediathek recherchieren oder auf dem Internetportal des dfp, das seit 2009 online ist. Nicht ganz richtig verbunden sind Anrufer, die den Wert ihrer alten Handpuppen erfahren wollen. »Wir sind kein Museum«, erklärt Annette Dabs, die seit 1998 künstlerische Leiterin und Geschäftsführerin des dfp ist.
»Wir können keine Puppen schätzen. Aber wir wissen, an wen sie sich wenden können.« Auch Menschen auf der Suche nach einem Puppendoktor melden sich bisweilen. Ohne große Heilungschancen, versteht sich. Aber Informationen zu Workshops, Symposien, Ausschreibungen und vielversprechenden Premieren, die gibt es hier. Außerdem ist das dfp Herausgeber des zweimal jährlich erscheinenden Figurentheatermagazins double, verleiht mit der Stadt Bochum den Fritz-Wortelmann-Preis für Amateurfigurentheater und richtet den Kunstpiep-Wettbewerb für Medienkunst aus.
Und alle zwei Jahre im Mai – ist Fidena-Zeit. Dann kann es proppevoll werden in den Gästezimmern, die in der ersten Etage gegenüber den Bibliotheksräumen liegen. Dann während in den Zimmern sonst die dfp-Stipendiaten Ruhe, Raum und Zeit für ihre Figurentheater-Forschungen haben, übernachten dann schon mal gestrandete Festival-Praktikanten im ehemaligen Wasserturm. Die Fidena, das »Figurentheater der Nationen«, ist ein Schwerpunkt in der Arbeit des dfp. Sicherlich der öffentlichkeitswirksamste. Das internationale Festival findet seit 1958 in Bochum statt, seit einigen Jahren auch in Herne und Essen
Die Fidena ist das Barometer für Entwicklungen im Figurentheater. Die diesjährige Eröffnungsinszenierung kam zum Beispiel ohne Puppen aus. Allenfalls ein Chor aufgeblasener Trockenhauben oder der ferngesteuerte Ballon-Hai, der über die Köpfe der Zuschauer schwebte, hatten im entfernten Sinne Puppen-Potenzial. Die belgische Künstlerin Miet Warlop veranstaltete mit »Mystery Magnet« ein freakiges Farbspektakel. Buntes Blut spritzte aus riesigen Perückenköpfen auf die weiße Stellwand, es brodelte der Schaum meterhoch aus Flaschen, ein dicker Mann steckte in der Wand fest. Warlops Bühne ist ein Experimentierfeld für Hobbychemiker und wort- und kopflos agierende Figuren mit destruktiver Neigung. Es sprudelt, spritzt und qualmt in dieser anarchischen Cartoon-Szenerie. Miet Warlop ist bildende Künstlerin. Und die Entscheidung, mit »Mystery Magnet« die Fidena 2014 zu starten, ist vielsagend. Für Dabs sind die Einflüsse der bildenden Kunst auf das Figurentheater typisch.
Wer heute vom Puppentheater spricht, meint immer auch Objekt- und Materialtheater. Und um die unvermeidlichen Assoziationen an Kasperl und Kinderbelustigung einzuschränken, hilft der umfassendere Begriff Figurentheater. Der schließt alle Formen der darstellenden Kunst mit ein, in denen nicht der Schauspieler, sondern ein Objekt, ein Schattenriss, Projektionen oder eben eine Puppe im Mittelpunkt stehen. Diese Dinge werden dem funktionalen Blick entzogen, sie werden Spielmacher. So stellt das Figurentheater immer wieder das Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Mensch und Materie in Frage.
Trotz seiner Bedeutsamkeit und seiner uralten Tradition kämpft das Figurentheater seit eh und je um seine Anerkennung in Gesellschaft und Kulturpolitik. Ist das nicht ermüdend? »Es gab immer wieder schwer frustrierende Momente«, antwortet Annette Dabs. Die ehemalige Opernregisseurin und ausgebildete Kulturmanagerin musste selbst gegen gängige Klischees in ihrem Kopf angehen, als ihr die neue Aufgabe in Bochum angeboten wurde. Nicht mein Niveau, dachte sie damals zunächst. Heute verhandelt die 53-Jährige als Geschäftsführerin des dfp, das vom Land NRW und von der Stadt Bochum gefördert wird, mit dem Bund um finanzielle Unterstützung. Schließlich ist das dfp als national bedeutsame Institution anerkannt.
Als Fidena-Leiterin etablierte Dabs in den vergangenen Jahren städteübergreifende Kooperationen (zum Beispiel mit dem Essener Tanzzentrum PACT Zollverein oder neuerdings dem Grillo Theater), Performances im öffentlichen Raum (zum Beispiel vor dem Bochumer Rathaus) und große Produktionen auf großen Bühnen (zum Beispiel im Schauspielhaus Bochum), um ganz gezielt ein Bewusstsein für die Möglichkeiten des Figurentheaters entwickeln zu helfen. Bildende Kunst, Tanz, Musik – die Genregrenzen verwischen, wirft man einen Blick auf die Produktionen der vergangenen Festivals. Die Niederländerin Boukje Schweigman etwa choreografierte Peitschen statt Puppen. Das Figurentheater Wilde & Vogel perfektioniert nicht nur das Spiel mit Marionetten, sondern auch das an Instrumenten. Neben einem Szene-Star wie Neville Tranter gehörte auch schon Theaterillusionist Robert Lepage zum Fidena-Programm. Und als Höhepunkt des Festivals 2014 wurden die Uraufführungen der belgischen Needcompany angekündigt.
So öffnet sich das zeitgenössische Figurentheater immer weiter Richtung Performancekunst. Negativ formuliert: Was bleibt dem Figurentheater noch an Abgrenzendem, Außergewöhnlichem und Spezifischem? Als hätte Annette Dabs auf diesen Einwand gewartet, kontert sie mit einem durchdachten Plan. Mit dieser Ausgabe des Festivals habe sie das Publikum an die Ränder des Figurentheaters geführt. Noch weiter wolle sie die Ausweitung der Grenzen nicht treiben. Der Gewinn: Die neuen Formen sind bekannt und vom Fidena-Publikum akzeptiert. Mit dem Gefühl, ein neues Selbstverständnis der Szene entwickelt zu haben, traut sich Dabs nun zurück an die hierzulande sicherlich nicht leicht zugänglichen Wurzeln der Figurentheaterkunst: Bei der nächsten Fidena 2016 sollen Aufführungen aus dem asiatischen Kulturkreis gezeigt werden, altes Handpuppentheater aus der indischen Tempeltradition beispielsweise oder das indonesische Schattentheater Wayang Kulit.
Das Figurentheater nähert sich der Performance. Und das Schauspiel wendet sich den Puppen zu. In Oberhausen feierte Puppenkünstlerin Suse Wächter in der vergangenen Spielzeit mit »Brecht« einen ihrer legendären »Helden des 20. Jahrhunderts«. In Köln hat Intendant Stefan Bachmann den Puppenspieler Moritz Sostmann als Hausregisseur verpflichtet. Und die Trashpuppenspieltruppe »Das Helmi« frotzelt seit Jahren auch auf Stadttheaterbühnen oder war beim Festival des Freien Theaters, »Impulse«. Dabs freut sich über diese Entwicklung, »die Berührungsängste sind vorbei«. Aber sie warnt auch vor Vereinnahmung, hofft stattdessen auf respektvolle Kooperationen. Wenn Puppen und »richtige« Schauspieler gleichberechtigt auf der Bühne agieren, hat das bislang meist noch etwas Unbeholfenes. Theaterschauspieler stehen berufsbedingt gerne im Mittelpunkt, dem Figurentheater hingegen mangelt es häufig an dramaturgisch entwickelten Geschichten, die durch das Wort vor Beliebigkeit bewahren (können).
Was aber alle Produktionen im Figurentheater vereint, ist die Faszination. Ein Staunen über die bizarr-anarchischen Aktionen in Miet Warlops »Mystery Magnet«, über die schräg-akribischen Mini-Installationen der russischen Ingenieurstheatermacher AKHE, über die gespenstisch lebensechten Puppen einer Suse Wächter. Staunend aber sind wir auch als Erwachsene wieder ganz nah am Kindertheater. Auch dafür steht das Figurentheater. Und dafür braucht es sich nicht zu schämen. Ganz im Gegenteil, das ist eine große Kunst.