TEXT: ANDREAS WILINK
Einmal in Paris, wohin das Wuppertaler Tanztheater Jahr um Jahr für eine Gastspielreihe fuhr und fährt, saßen die beiden Frauen spät abends zusammen und »ertranken in Rotwein«, wie Marion Cito sich erinnert. Da habe Pina all die Lieblingskleider aufgezählt, die Cito seit »1980« und der gleichnamigen Tanztheater-Produktion entworfen habe. »Es waren immer die Pina-Kleider, die ich mir auch für sie gedacht haben konnte.« Darunter eines aus schwerer dunkelblauer Seide, das durch den Ärmelausschnitt tief und weit blicken lässt. Es ist abgebildet in dem opulenten Bildband »Schönheit wagen«, der in diesen Tagen erscheint und von rückwärts, mit der ersten gemeinsamen Arbeit endend, entlang der einzelnen Choreografien die Kostüme Revue passieren lässt.
Was naturgemäß nicht ohne deren Träger funktioniert, selbst wenn manche der Ursprungs-Protagonisten längst ausgewechselt oder die Tänzer-Darsteller gar nicht zu sehen sind, sondern einzelne der hinreißenden Objekte auf Puppen drapiert wurden und an ihnen in wehendem Wurf oder glattem Fall hängen. So eng das Genie der Jahrhundert-Künstlerin Pina Bausch mit ihren Interpreten verbunden war, so sehr sind auch die Kostüme mit ihnen verknüpft und in unserem Bewusstsein abgelegt. Sogar mehr als die Bühnenbilder, in denen sie sich bewegen, zwischen Caféhaus-Stühlen, Kakteen oder Nelken, im Wasser, mit Krokodilen oder einem Flusspferd, vor dem roten Blütenberg aus »Der Fensterputzer«, dem grünen Hügel von »Wiesenland« oder dem Kreidefelsen in »Rough Cut«.
TELLERRÖCKE, HÄNGERCHEN
Im Kunstraum des Tanztheaters werden die Kleider zur zweiten Haut, alltagstauglich und der Wirklichkeit entliehen samt Stöckelschuh, aber doch fern jedweder Realität. Soziale Codes und ästhetische Traumsinnbilder. Sie seien »untrennbar mit dem ›Körper‹ und den Bewegungen der Tänzer« verbunden, schreibt der japanische Modedesigner Yohji Yamamoto bewundernd. Man sieht Mechthild Grossmann, Nazareth Panadero, Julie Shanahan oder Helena Pikon in fließenden Roben mit schwingenden Tellerröcken; sieht die Melancholie der Herren Andrey Berezin, Lutz Förster, Dominique Mercy, Jan Minarik oder Jean-Laurent Sasportes, die nicht zu lösen ist von den Hängerchen oder dem gebauschten Tutu einer traurigen Ballerina, in dem sie sich preisgaben, oder auch ihren Anzügen, in denen sie elegant wie Fred Astaire wirken.
Die Arme sollten frei bleiben und der Rückenabschluss des Kleides tief liegen, das sei für Pina ganz wichtig gewesen. Sagt Marion Cito, während wir uns in der Büroetage des Tanztheaters in Wuppertal über die Fotografien beugen. Zierlich und schmal ist sie und sehr berlinerisch, trotz der Jahrzehnte an der Wupper. Das zweifarbige Haar mit Stirnpony trägt sie derzeit nicht als Bubikopf, wie man sie seit langem kannte, sondern lang gewachsen und zum zarten Pferdeschwanz gebunden. Immer noch unverkennbar die ausgebildete Tänzerin, als die sie 1976 von Pina Bausch engagiert wurde, zunächst als Assistentin, auch wenn sie noch in den Stücken (»Blaubart«, »Renate wandert aus«) mitgetanzt hat, bevor sie nach dem Tod von Rolf Borzig zur Kostümbildnerin wurde. Erblich vorbelastet. Ihre Mutter war Modezeichnerin und hat der 1938 geborenen Tochter später Ballkleider geschneidert. Das Buch ist auch eine dezent versteckte Verneigung vor ihr.
GEOMETRIE NCIHT ERLAUBT
Das 1945 vaterlos gewordene Kriegskind Marion Schnelle (den Namen latinisierte sie später in Cito) begann mit zehn Jahren ihre Tanzausbildung bei Tatjana Gsovsky, Erneuerin des Nachkriegs-Balletts in Deutschland, die die russische Tradition vertrat und zudem durch das Isadora-Duncan-Studio / Petrograd sowie aus Hellerau / Dresden Elemente des deutschen Ausdruckstanzes aufnahm. Cito wurde Erste Solistin, tanzte in Leipzig, Dresden, Berlin, u.a. in Gastchoreographien von Balanchine, Kenneth McMillan, Serge Lifar, John Cranko und Antony Tudor; 1972 ging sie für drei Spielzeiten mit Gerhard Bohner ans Ballett Darmstadt. Fünf Jahre später kam sie nach Wuppertal – mit dem Entschluss, nicht mehr tanzen zu wollen.
Einiges lernt man mit dem Buch und seiner »Autorin« neu zu sehen: dass geometrische Muster nicht erlaubt sind, abgesehen von einer Ausnahme, neongelb mit Balken-Streifen, getragen einst von Meryl Tankard. Oder dass die Kostüme völlig unabhängig vom Bühnenbildentwurf des Peter Pabst entstehen und sich im Freiraum entfalten, sogar, wenn dieser aus roten Blüten besteht, in dem sich ein violettes Kleid kraftvoll harmonisch behauptet. Anders, als die Legende erzählt, hat Cito ihr Material nicht in den Partnerländern oder während der Auftritte in aller Welt gekauft. In Istanbul, dem Koproduzenten von »Nefés«, habe eine Journalistin sie attackiert, weil die Kostüme so gar nichts authentisch Türkisches enthielten. Ein dummer Irrtum.
Früher shoppte Cito durch Second-Hand-Läden – »ich musste nur mit einem Koffer nach Berlin reisen«, als das Budget stieg, kaufte sie größer ein. Aber preisbewusst. Vielfach auf Verdacht und ausgestattet mit Vertrauensvorschuss. Ein Stückchen goldglänzender Pailletten-Stoff von Armani (für »Agua«), dessen Maße kaum für ein ganzes Kleid reichten und deshalb der Rückenausschnitt noch tiefer ausfiel, kostete 250 Euro, das war das Äußerste. Neben einem Großhandel in Wuppertal, wo Cito auch schon mal einen günstigen Gucci-Stoff fand, dessen rosa Seide für Regenwasser wie gemacht war, so dass er im Stück »Vollmond« benutzt und gegen die echten, weil nicht wasserfesten Kostüme unbemerkt ausgewechselt werden konnte, wenn das Ensemble ins Nass abtauchte, gibt es eine bevorzugte Adresse. Es ist der Marché Saint-Pierre in Paris und u.a. das dort ansässige Magasin Dreyfus.
Angesichts des beinah jährlich neuen Defilees der vielen schönen Kleider-Schmuckstücke entstand mit der Zeit im Kopf des Zuschauers eine Art universeller Prototyp, etwas »Exemplarisches«, wie Anne Teresa de Keersmaeker es nennt. Mustergültig: florale Motive, leuchtende Farben oder zarte blasse Uni-Töne, die den Haut-Effekt aufnehmen, fließende Stoffe, eine feminine Silhouette, erotisch, sinnlich, anmutig, luftig transparent, selbstbewusst und stolz. Auch »eroberungslustig«, wie auf bestimmten Fotografien von Helmut Newton, dem Juden aus Berlin. Eine Anmutung wie im Hollywood der Vierziger, an das man sich erinnert fühlt, als seien die Diven der klassischen Periode im skulptural schimmernden Silberfluss wiedererstanden. Aber, so Cito, sie denke nicht in Epochen. Bloß keine Folklore. Keine Zitate und konkreten Rekurse.
FÄNGT DAS KLEID AN ZU LEBEN
Ein Abendkleid ist gut, um zu küssen oder um zu beißen. Man kann darin Spaghetti kochen, Wassereimer schleppen, Bäume tragen, Leitern erklimmen. Dass der Saum auch kurz sein kann, der Stil mal die Fünfziger aufruft, den Look bunter Sommerkleider annimmt, wird auf der Erinnerungsspur verdeckt von den rauschenden Roben, die auf den Boden aufstoßen und darüber hinaus schleifen. »Je länger die Schleppe, umso lieber«, so Marion Cito über Pina Bauschs Lust an der Verlängerung. »Das macht jede Frau schöner; ihre Beine sehen unter Stoff, egal, wie sie geformt sein mögen, besonders gut aus. Man fühlt sich geschützt und ist doch frei. Wenn die Bewegung beginnt, fängt das Kleid an zu leben. Die Kleider unterstützen den Vorgang auf der Bühne.«
Es will einem scheinen, als seien die achtziger Jahren wagemutiger gewesen: Mechthild Grossmann in großer Gala brustfrei, neben sich die Schubkarre mit Briketts (»Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört«), Jan Minarek als grell bemalter Stadtindianer in »Palermo Palermo«, die kessen Petticoats für »Ahnen«, die frechen Pin-ups mit Badetüchern in »Agua«. Alles hat seine Zeit.
Ob die Schönheit, auch als Sehnsuchts-Ziel, auf Dauer nicht den, der sie verkörpert, müde macht? Wäre nicht denkbar, dass der Wunsch, aus dem Ideal herauszutreten, für die Tänzerinnen einmal wirksam werden muss? Sie genießen dann wohl, eine Figur darzustellen, die aus dem Muster fällt, schlampig ist, gewollt schlecht angezogen und in unvorteilhafter Garde-robe, wie etwa in der Servierinnen-Szene in »Viktor«. Andererseits, so Cito, wir nennen es bewusst »Tanzkleider, es ist keine Haute Couture.« Mithin sind es Kostüme. Extrem individuell, nicht austauschbar zwar, aber doch keine Ich-Verkörperung des Interpreten.
Kleider als reiner Widerspruch. Die Patronne Bausch, die selbst Anzüge mit weiten Hosen trug (zunächst aus zweiter Hand, später von Yamamoto) und doch in frühen Jahren mädchenhaft verspielt wirken konnte – Cito traf sie das erste Mal mit rotem Pullover und rotem Lippenstift – , erfand im Spiegel ihrer Tänzerinnen das andere Bild von sich. Das sie selbst nun nicht mehr zu erfüllen brauchte. Sie hatte ihren Ausdruck gefunden: das minimalistische Schwarz, Körperformen verhüllend, flache Schuhe von Bally, das Ornat der Hohepriesterin des Tanzes. Cito deutet es als »Abnahme von Eitelkeit, der Arbeit halber«.
Wir wollen die Männer nicht unterschlagen, die nicht nur in Hemd und Hose oder im lässigen Anzug auftreten. Sie dürfen auch mal Badehosen tragen, Schottenrock, Lurex-Mini oder Hüftschal und ihre weibliche Seite ausleben, ohne dass es Travestie würde: »ohne als Trulla verkleidet zu sein, sondern in einem ernsthaften Kostüm«, wie Cito sagt. Im Kampf der Geschlechter, der eines der prägenden Motive im Bausch-Kosmos war, lösten sich so auch Klischees. Der dominante, rabiate, die Frauen-Puppe hebende Mann besaß eine zarte Seite, wenn er sich seiner virilen Uniform entkleidete und sich traute. Fast die Erfindung des dritten Geschlechts, noch vor Pedro Almodóvar, der nicht umsonst Pina Bausch bewundert und ihr auch in einem seiner Filme die Ehre erwies.
Zwei Frauen und zwei Männer der Wuppertaler Bühnen kümmern sich im Fundus um die Kostüme. Zu reparieren gibt es nach jeder Vorstellung dies und jenes; einige Kleider gehen auch kaputt. Aber man will nichts ändern oder austauschen. Es bleibt, wie es einmal geschaffen wurde. Cito: »Die Rettung für viele Stücke ist ein neues Druckverfahren einer Firma in Berlin, bei dem Stoff-Muster auf weißer Seide reproduziert und multipliziert werden, die sonst unersetzbar wären.« Das Buch ist somit auch kostbares Dokument für das Bausch-Archiv und entstand in Kooperation mit der Foundation.
Cito kommentiert immer knapp, auch darin Berlinerin. Ob es denn nicht schwierig sei, wenn die Kleider für andere Tanzende kreiert wurden, als diejenigen, die sie jetzt tragen? Passt das denn immer? »Die Frage ‚Steht mir das?’, die gibt es bei uns nicht.« Punktum. Prinzipiell und Prinzipalin auch sie, wie Pina Bausch, mit der sie sich instinktiv verstand. Von Pina nahm sie nach deren Tod ein bestimmtes Kleidungsstück zu sich und hängte es im Schlafzimmer auf einen Bügel. So war ein Teil der Verstorbenen bei ihr.
»Schönheit wagen«. Tanzkleider von Marion Cito; Hrsg. Tanztheater Wuppertal Pina Bausch; mit einem Text der französischen Journalistin Dominique Frétard in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache; 320 Seiten, 430 Farbfotografien; 40 Euro; ab 18. September im Onlineshop des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch unter www.pina-bausch.de
»Pina lädt ein«: Das Pina Bausch Archiv öffnet sich am 27. September erstmals für die Öffentlichkeit und veranstaltet eine Archiv-Präsentation im Opernhaus Wuppertal; ab 11 Uhr »Erinnerungslabor – Erzählen Sie uns Ihre Geschichte«; 14 bis 18 Uhr Vorstellung der Arbeit des Archivs; nähere Informationen und das detaillierte Programm ab 1. September auf www.pinabausch.org