INTERVIEW: REGINE MÜLLER
Louis Andriessen, der bedeutendste lebende Komponist der Niederlande, entstammt einer alteingesessenen Musiker- und Komponisten-Dynastie. Das Œuvre des 75-Jährigen umfasst zahlreiche Gattungen; seine Musik spiegelt Einflüsse von Bach über Strawinsky bis hin zu den amerikanischen Minimalisten und kennt keine Berührungsängste vor Jazz-Anleihen, Boogie-Woogie oder sogar Rap. Sein großes Musiktheater »De Materie« wurde 1989 uraufgeführt – und seither nie wieder szenisch realisiert.
»De Materie« umfasst vier Teile, die wohl eher als Sätze einer Symphonie zu verstehen sind, denn als klassische Opern-Akte. Der erste Teil spielt im Frühbarock, als Protagonist fungiert der niederländische Theologe David Gorlaeus, der 1610 eine frühe Atomtheorie entwickelt hatte; der zweite kreist um die Mystikerin Hadewijch und ihre erotischen Fantasien von der Liebe zwischen Mensch und Gott. Part drei, stark vom Boogie-Woogie inspiriert, ist Piet Mondrian und der Kunstbewegung »De Stijl« gewidmet, während der Abgesang sich der Forscherin Marie Curie zuwendet. Die neue rare szenische Aufführung in der Duisburger Kraftzentrale verantworten als Regisseur Heiner Goebbels und Peter Rundel als musikalischer Leiter.
Die imposante Fassade in der Amsterdamer Keizersgracht mit der Messingklingel täuscht: Wenn sich die Haustür ruckelnd öffnet, steht man vor einer engen Treppe, die sich steil in die dritte Etage schraubt. Der hochgewachsene, immer noch jugendlich schlaksige Andriessen empfängtoben schmunzelnd und führt eine weitere Leiter hinauf in seinen Wohnraum mit offener Küche. Von da aus geht eine Stiege ins Allerheiligste, sein Studio. Der Meister ist heiter gestimmt, in den Augen blitzt der Schalk. Listig bietet er Cognac an oder doch lieber einen Whiskey? Am Ende wird es Limoncello mit Wasser und viel Eis. Das Telefon klingelt, er spricht Italienisch, würgt das Gespräch ab, stöpselt das Telefon aus. Nun ist er ganz Ohr.
K.WEST: Die Uraufführung von »De Materie« ist 25 Jahre her. Wie kam es damals dazu, dass Sie sich der Oper zuwandten?
ANDRIESSEN: Als ich das Stück schrieb, hatte ich zwar bereits viel Erfahrung mit kleineren Formen von Musiktheater, aber keine besonders hohe Meinung von der großen klassischen Oper. Aber für mich war es an diesem Punkt meiner Arbeit wichtig zu versuchen, die Radikalität meiner Konzertkompositionen mit der Einfachheit meiner Theatermusik zu kombinieren. Denn ich empfand starke Diskrepanz zwischen beidem. Um diese Diskrepanz konkret und greifbar zu machen: Drei Jahre nachzudenken über ein Konzertstück einerseits und nur drei Monate, um ein abendfüllendes Musiktheaterstück zu schreiben, schien mir merkwürdig.
K.WEST: Was für Musiktheaterstücke waren das denn vor dem Opern-Debüt?
ANDRIESSEN: Ich hatte eine Reihe kleinerer Stücke in der Brecht-Tradition geschrieben mit gesprochenen Dialogen und Songs, ähnlich wie Hanns Eisler. Meine Musik hat immer schon gern mit Genres und Stilen geflirtet. Als ich also anfing, »De Materie« zu schreiben, wollte ich die Zugänglichkeit meiner Theatermusik mit der Komplexität und Radikalität meiner Konzertmusik vereinen.
K.WEST: War das ein Versuch, den hohen, sagen wir ruhig: intellektuellen Anspruch mit einem niederen Unterhaltungsanspruch zu verbinden?
ANDRIESSEN: Ich würde nicht hierarchisieren. Für mich gibt es nur gute und schlechte Musik, in allen Genres! Außerdem, ich schreibe keine ›klassische‹ Musik. Als ich dann an »De Materie« arbeitete, hatte ich bald den Eindruck, dass es funktioniert.
K.WEST: Was war reizvoll an dem, wie Sie sagen, Flirt mit Bert Brecht?
ANDRIESSEN: Die Auseinandersetzung mit Dialektik und Verfremdung ist nach wie vor sehr wichtig für mich. Und natürlich die besondere Form der Brecht’schen Ironie. Ironie ist für mich das Schlüsselwort schlechthin!
K.WEST: Wie sehen Sie in der Rückschau »De Materie«? Wie ordnen sie das Werk in Ihr Œuvre ein?
ANDRIESSEN: Ich habe seither noch andere große Opern gemacht, da-runter mit dem Filmregisseur Peter Greenaway und zuletzt »La Commedia« 2008 mit dem Amerikaner Hal Hartley, auch ein Film-Mann, darauf bin ich besonders stolz. Ich will es gar nicht werten, aber ich denke, dass ich der Radikalität von »De Materie« heute entwachsen bin. »La Commedia« zeichnet sich dagegen aus durch eine deutlich größere Freiheit im Umgang mit den unterschiedlichsten musikalischen Materialien. Auch szenisch denke ich heute wohl irgendwie leichter. »De Materie« ist extremer, keine Frage. Aber ich rücke davon nicht ab.
K.WEST: Wie noch bis vor kurzem Bernd Alois Zimmermanns »Soldaten« gilt auch »De Materie« nicht nur als szenisch schwierig zu verwirklichen, sondern auch als technisch unspielbar …
ANDRIESSEN: »De Materie« ist spieltechnisch für die Instrumentalisten nicht schwerer als Schönberg oder Bartók, denke ich. Aber äußerst heikel im Zusammenspiel! Für die Solisten und den Chor hat es insbesondere der erste Teil in sich. Nein, aber das Werk ist keineswegs unspielbar.
K.WEST: Was ist der Grundgedanke, die Leitidee für »De Materie«? Oder muss man das Entstehen als Prozess begreifen?
ANDRIESSEN: Es war vor allem eine Vision – mir ging es um nichts Geringeres als die Beziehung zwischen Materie und Geist. Die eigentlich ganz simple Grundfrage lautet: Wie gingen und gehen wir eigentlich um mit der Materie, die uns umgibt?
K.WEST: »De Materie« ist tatsächlich alles andere als eine Handlungsoper mit Konflikten, mit Verwechslungen, Romanzen und Liebespaaren, sondern eine Art philosophische Abhandlung mit historischen Schlaglichtern oder, salopp gesagt, Schnappschüssen. Würden Sie das ähnlich beschreiben?
ANDRIESSEN: Das Wort Schnappschuss ist mir ein bisschen zu oberflächlich. Mein Vorbild ist mein Vater: Er hat immer abends da gesessen und gelesen, alles, was er in die Finger kriegte. Und wie mein Vater habe ich mein Leben lang gelesen, philosophische Werke studiert, aber auch Romane und Sachbücher verschlungen. Ich habe das nie bereut, so viel gelesen zu haben. Er hat mich schon als Kind mit in die Museen genommen, daher mein brennendes Interesse an Bildender Kunst. All das, zusammen mit der gewachsenen musikalischen Tradition unserer Familie, hat mich zu dem gemacht, der ich bin. So erklärt sich die Auswahl meiner Themen – und der vielleicht etwas überambitioniert wirkende Anspruch, so umfassend wie nur möglich zu denken.
K.WEST: Wie kam es zur Zusammenarbeit mit Heiner Goebbels?
ANDRIESSEN: Ich kenne Heiner Goebbels schon seit den 1970er Jahren. Er ist zwar etliche Jahre jünger als ich, aber ich würde schon sagen, wir gehören einer Generation an. Wir hatten eine gemeinsame politische Sozialisation und verfolgten ähnliche Ideen. So etwas wie sein »Sogenanntes Linksradikales Blasorchester« habe ich auch gemacht. Wir kommen gewissermaßen aus dem gleichen Stall.
»De Materie« von Louis Andriessen; Regie: Heiner Goebbels, Bühne & Licht: Klaus Grünberg, Kostüme: Florence von Gerkan; Ensemble Modern Orchestra unter Peter Rundel; 15. bis 17. sowie 22. bis 24. August 2014; Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord. www.ruhrtriennale.de