TEXT: ANDREJ KLAHN
Bürgermeister regen sich nicht oft über Bildbände auf. Doch im November 1958 war es mal wieder so weit. Da war der Essener OB Wilhelm Nieswandt so sehr in Fahrt, dass er einen Brief an den Verleger Joseph Caspar Witsch aufsetzte, der kurz darauf in Auszügen auch in den Ruhr Nachrichten zu lesen war. Witsch hatte in seinem Verlag im selben Jahr einen Bildband mit dem schlichten Titel »Im Ruhrgebiet« herausgebracht, der einen Text von Heinrich Böll und Schwarzweiß-Fotos von Chargesheimer versammelte. Beide Autoren lebten in Köln. Was Nieswandt zum Anlass nahm, sich darüber zu beklagen, dass die Ruhrgebietsstädte es gründlich leid seien, »von Außenseitern in einer Weise dargestellt zu werden, die nicht einmal mit der Realität der Gründerjahre übereinstimmt, geschweige denn mit der Gegenwart«. Und dann folgt noch eine Kampfansage. »Wir haben nicht die Absicht, derartige Veröffentlichungen unwidersprochen zu akzeptieren.« So!
Nieswandt war mit seiner Empörung über »Im Ruhrgebiet« nicht allein. In Bochum sah man sich restlos getäuscht, weil die Bilder und Texte der Herren Böll und Chargesheimer für die Stadtwerbung unbrauchbar wären. Und der »bitter enttäuschte« Gelsenkirchener Oberstadtdirektor faselte in seiner Kritik sogar etwas von »Entartung«.
Was aber war zu sehen in diesem Bildband, der den Bürgermeistern des Ruhrgebiets die Halsschlagadern anschwellen ließ? Malocher, Bergarbeitersiedlungen, Industriekulissen. Der wohlbekannte Motivkreis ließe vermuten, dass Chargesheimer, der 1924 als Carl-Heinz Hargesheimer zur Welt kam, auf seiner Reise durch das Revier bloß einmal mehr das sah, was Fotografen im Ruhrgebiet schon immer gesehen hatten. Mehrere Monate war er 1957 auf dem Moped durch das Ruhrgebiet geknattert, um Bilder für das »Kohlenpottbuch« zu machen – so nannte Böll das Projekt, mit dem sich die beiden selbst beauftragt hatten. Rund 1500 Negative im Mittelformat hatte Chargesheimer auf den Fahrten belichtet. Doch Chargesheimer schaute anders auf das Revier als die meisten seiner Kollegen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich im Auftrag der Schwerindustrie affirmative Bilder von Arbeit, Leben und Landschaft angefertigt hatten. Bergmänner wurden als Helden und Kameraden in Szene gesetzt, Arbeitersiedlungen als heile Welt, zu der auch die rauchenden Schlote, Fördertürme oder Halden im Hintergrund gehörten. Solche Fotos hatten die Selbstwahrnehmung und das Ruhrgebiet-Image als wirtschaftliche Kraftzentrale des Landes entscheidend geprägt.
Derartige Motive finden sich natürlich auch bei Chargesheimer: Jungs, die auf der Straße pöhlen; ältere Herren, die sich über Taubenkäfige hinweg unterhalten; Männer, die vor dampfenden Kühltürmen Fußball spielen. Aber es ist ja auch schwer möglich, im »Kohlenpott« keine Industriekulissenbilder zu fertigen, weil sich die Industrie einfach überall ins Bild drängt. Doch der Großteil der stilistisch sehr unterschiedlichen Aufnahmen Chargesheimers mutet eng und düster an. Dem Schmutz und der Härte der Region wollen sie nichts Pittoreskes mehr abgewinnen. Sie zeigen den kargen Alltag der Menschen, den Schweiß auf dem Gesicht des Hauers, die geschundene, aufgewühlte Industrielandschaft und die Bescheidenheit der Verhältnisse, in denen die Menschen leben. Auch die soziale Kluft zwischen den Milieus bekommt Chargesheimer in den Blick, wenn er etwa drei verhärmt dreinblickenden Arbeiterkinder auf dem Weg zur Schule mit dem Bild einer – der Kleidung nach zu urteilen – gut situierten bürgerlichen Familie konfrontiert. Seine auf der Kirmes festgehaltenen Szenen wirken eher bedrückend denn vergnügt, die Maschinen in den Werkhallen weniger imposant als einschüchternd.
Für die Buch-Veröffentlichung hatte Chargesheimer 157 Aufnahmen ausgewählt, sie teils extrem an- und ausgeschnitten und rahmenlos seitenfüllend angeordnet, was die Subjektivität seiner Sichtweise noch akzentuiert. Der Nachbearbeitung kam also eine entscheidende Rolle zu. Doch nicht alle Motive liegen heute als Abzüge von Chargesheimers Hand vor. Zudem sind auch nicht alle Negative der im Buch gezeigten Fotos erhalten, und zu einigen Bildern existiert weder ein Negativ noch ein Positiv. So ist die Entscheidung der Ausstellungsmacher nachvollziehbar, das Projekt gänzlich neu zu organisieren, statt den Anschein aufkommen zu lassen, man hätte einfach ein Buch an den Wänden der ehemaligen Kohlenwäsche der Zeche Zollverein verteilt.
Tatsächlich sind nur ein Drittel der Fotos aus »Im Ruhrgebiet« in der Ausstellung zu sehen. Der überwiegende Teil der rund 200 Bilder, die in »Chargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets« gezeigt werden, stammt aus dem unveröffentlichten Ruhrgebiet-Negativ-Konvolut. Die Aufnahmen werden im Ruhr Museum thematisch nach »Landschaft«, »Stadt«, »Arbeit«, »Wohnen«, »Freizeit« und »Menschen« geordnet und in Seitenkabinetten nochmals aufgefächert. Dort finden sich dann auch Motivkreise wie die »Frauenarbeit«, die Chargesheimer für den Bildband vollkommen außer Acht gelassen hatte. Seine Behauptung, er hätte die härtesten Fotografien nicht veröffentlicht, darf nach Sicht der Ausstellung allerdings angezweifelt und wohl eher als Arbeit an der Legende verbucht werden.
Daran beteiligt sich auch Heinrich Böll. Gleich mit dem ersten Satz seines Essays haut er kräftig in eigener Sache auf die Werbetrommel: »Das Ruhrgebiet ist noch nicht entdeckt worden«, heißt es da, souverän außer Acht lassend, dass sich vor seiner Pionierarbeit immerhin schon Fotografen und Schreiber wie Heinrich Hauser, Albert Renger-Patzsch, Joseph Roth und Egon Erwin Kisch mit der Region aus-einandergesetzt hatten. Böll kommt auch nicht umhin, die Revier-Bewohner als einfach, unpathetisch und herzlich zu beschreiben und damit das übliche Klischee vom unkompliziert-bodenständigen Ruhrgebietscharakter zu bemühen. Dennoch darf »Im Ruhrgebiet«, wenn schon nicht als Entdeckung, so doch als Neuentdeckung der Region nach dem Zweiten Weltkrieg gelten.
Obwohl Chargesheimers Ruhrgebietsaufnahmen weit davon entfernt sind, das Revier so zu zeigen, wie Oberbürgermeister seiner Zeit es gern gesehen hätten, verwundert die Heftigkeit der Polemik um das Buch aus heutiger Sicht dann doch. Wie es sich für Auseinandersetzung um kulturelle Themen gehört, mündete auch diese Debatte in einer Podiumsdiskussion. Im Februar 1959 fuhren Chargesheimer und Böll an der Seite ihres Verlegers nach Essen, um sich im Kettwiger-Tor-Haus drei Stunden lang Beifall und Kritik anzuhören. Überliefert von diesem Abend ist folgender Satz des Fotografen: »Die Industrie verbraucht Land und verbraucht Menschen. Dies Buch habe ich den Menschen gewidmet, die darin abgebildet sind, und nicht den Oberbürgermeistern, die dadurch ihre fleissige Verwaltungsarbeit geschmälert sehen.«
Dass das politische Erregungspendel aber so heftig ausschlug und der damalige Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk sich sogar veranlasst sah, rasch einen Ruhrgebiets-Bildband in Auftrag zu geben, der unter dem irreführenden Titel »Ruhrgebiet – Porträt ohne Pathos« das vermeintlich schiefe Bild des Reviers wieder geraderücken sollte – für diese Dünnhäutigkeit hat der Direktor des Ruhr Museums, Heinrich Theodor Grütter, eine historische Erklärung. Denn eben in dem Jahr, in dem Chargesheimer das Ruhrgebiet mit seiner Kamera bereiste, wurde die Preissubvention für heimische Kohle und der Einfuhrzoll auf Steinkohle und Erdöl in Deutschland aufgehoben. So markiert das Jahr 1957, in dem die Kohleförderung ihren Höhepunkt erreichte, den Beginn des Endes des alten Ruhrgebiets.
Als »Im Ruhrgebiet« erschien, zeichnete sich der kommende Abschwung bereits ab. Doch noch nicht einmal zu erahnen war, was in Zukunft auf den Bildern zu sehen sein würde, die eine neue Identität jenseits von Kohle und Stahl ikonografisch abstützen könnten. Das Letzte, was man als Oberbürgermeister in einer solchen Situation gebrauchen kann, sind Fotografien, die die Gegenwart als kommende gute alte Zeit schlechter zeigen, als Wähler sie im Gedächtnis behalten möchten.
Ruhr Museum: »Chargesheimer. Die Entdeckung des Ruhrgebiets«, bis 18. Januar 2015. www.ruhrmuseum.de