EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Es wird Zeit, dass wir alle einmal alles beiseitelegen und über Münster reden. Münster in seiner breithüftigen Backsteinigkeit war bislang der Inbegriff des Ehrlichen, sein Loden wirkte hundertprozentig durchgefärbt. Auch haben wir nie vergessen, dass in Münster der Frieden erfunden wurde, noch heute wird er weltweit geschätzt. Weniger bekannt ist, dass auch das Fahrradfahren seinen Ursprung in Münster/Westf. hat, nicht das Fahrrad als Gerät, das wurde in Fahr, Landkreis Kitzingen, erfunden, direkt an der schönen Volkacher Mainschleife. Nein, das Fahren darauf: An der Münsterschen Aa wurde es erstmals gewagt. Mit Erfolg; nichts gibt ein so gutes, ruhiges Gefühl, als einen Münsteraner auf einem Fahrrad zu sehen.
Münster hat eine Universität, aber auch das ist in Ordnung. 50.000 Studenten studieren dort – was sollten sie auch sonst an einer Universität tun, könnte man heiter fragen. Ja was! Fassaden errichten, mit Lack brüchiges Holz bepinseln, das könnten sie tun. Und das tun sie auch, wenn man diese Tätigkeiten im übertragenen Sinne versteht. Die Münsteraner Studenten, vor allem die Studenten der Medizin, schummeln. Sie pfuschen und betrügen, fälschen und erschleichen, klauen und kopieren sich aus den Leistungen anderer eine Doktorarbeit zusammen, das hat die »Such-Such-Braav!«-Website VroniPlag im Mai herausgefunden. Jeden Tag seitdem zieht sie neue Blüten aus dem Münsterschen Diss-Automaten, manche Doktorarbeit ist komplett kopiert, manche Doktorarbeit wurde thematisch gleich zweimal eingereicht, manche Doktorarbeit ist nur 15 Seiten dünn und dennoch fast vollständig abgeschrieben. Die halbe Stunde für eine solche Promotion hat man immer übrig, das zahlt sich ein Leben lang aus!
Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs, wird VroniPlag zitiert. Nur die Spitze des Eisbergs? Müssen wir damit rechnen, dass noch mehr, immer mehr, dass praktisch alles in Münster erschummelt und gefaket ist? Die kopfsteingepflasterte Verlässlichkeit, der rahmengenähte Dialekt, das rotbäckig Katholische, die ganze radgiebelige Geschichte? Münster an sich also – ein Schwindel?
Ausrufe der Zustimmung oder des Erschreckens aber schallen zu früh. Der Plagiatsjägermeister (mit dem Falschnamen) Gerhard Hindemith nämlich beschwichtigt drohend: Es ist überall so. An sämtlichen Hochschulen schreiben sämtliche Studenten unablässig voneinander ab. Bei Dissertationen; bei Master- und Bachelorarbeiten sowieso. Sofort erscheint vor dem geistigen Auge folgendes schaudern machendes Bild: 600.000 Studenten und Doktoranden, Studentinnen und Doktorandinnen in NRW, wie sie sich täglich gegenseitig über die Schulter und unter dem Arm hindurch spähen, sich Zettel um Zettel zuschieben, Stapel von Ausdrucken und DJ-Taschen voller USB-Sticks mit Textdateien hin und her tauschen, wie sie bis zur Sehnenscheidenentzündung Daumen und Zeigefinger zum Tastaturgabelgriff Copy-and-Paste spreizen. B kopiert von A, C von B und D von C, während A wiederum von D kopiert hat. So wächst nach und nach ein riesiger, aus sich selbst entstandener und in sich selbst kreisender Textkorpus von überwältigender Einheitlichkeit heran.
Haben diese Studenten ihr Studium absolviert, sind sie Meister des Simulacrums. Als Ärzte übernehmen sie die Diagnose von Kollegen, als Ingenieure plagiieren sie die Konkurrenz, als Politiker die Programme anderer Parteien. Die Folge ist eine beispiellose Vergesellschaftung und Vereinheitlichung alles Wissens. Sowie Auslöschung allen Zweifels: Die Frage, ob Gold ist, was da glänzt, braucht nie wieder gestellt zu werden.
Sollten wir Münster dankbar sein? Unbedingt. Nennen wir das Ende der Differenz von echt und falsch, des Streits zwischen Kreation und Plagiat den zweiten Westfälischen Frieden.