TEXT: GUIDO FISCHER
Von der Autobahn runter und rechts abbiegen. Dann immer geradeaus in Richtung Moers-Zentrum, bis der von Zelten überfüllte und von Wildparkern gesäumte Schlosspark nicht mehr zu übersehen ist. Jahrzehntelang war das die obligatorische Wegstrecke für Tausende von Jazz-Fans und Freizeitcampern, die sich am Niederrhein ein paar schöne Pfingsttage machen wollten. Doch ab 2014 beginnt für das Moers Festival eine neue Ära. Mit der 43. Ausgabe zieht das renommierte, aber finanziell arg gebeutelte Jazz-Meeting um. Das neue Gelände liegt jetzt nicht mehr fußläufig vom Zentrum entfernt, sondern am Stadtrand neben dem örtlichen Freizeitbad. Für rund 2,3 Millionen Euro wurde dafür eine ehemalige Tennishalle zum Festivalsaal umgebaut. Er soll über eine wesentlich bessere Akustik verfügen als das bisher im Schlosspark aufgebaute Zirkuszelt.
Mit der neuen Spielstätte und der umliegenden Infrastruktur will man vor allem die in den letzten Jahren explodierten Organisationskosten minimieren und damit das Festival auf Dauer überlebensfähig machen. »Die Stadt hat ihren Zuschuss zum Festival seit 2006 um mehr als die Hälfte gekürzt und in diesem Jahr noch einmal um 40 Prozent«, so der künstlerische Leiter Reiner Michalke. Vor diesem Hintergrund wäre für ihn ein Festival im Zelt auf der grünen Wiese ohne schwerwiegende Programmeinschnitte kaum mehr finanzierbar gewesen.
Trotz aller Sparmaßnahmen hat Michalke eine großartig besetzte Veranstaltung auf die Beine gestellt. Das Programm bildet einen Querschnitt durch die aktuellen Jazz-szenen in aller Welt.
Dabei wird sogar der zuletzt gestrichene vierte Festivaltag reaktiviert. Highlight zum Finale ist der Auftritt der New Yorker Avantgarde-Band Mostly Other People Do The Killing. Doch schon der Eröffnungstag lässt aufhorchen. Zum Beginn des Festivals präsentiert Marc Ribot – einer der prominentesten und zugleich experimentierfreudigsten Jazz-Gitarristen unserer Tage – seine (nicht nur) vom Blues aufgeladenen »Protest Songs«. In der frisch renovierten Festivalhalle tritt Bassist Sebastian Gramss mit mehr als 40 Kontrabasskollegen aus sechs Nationen auf, um an den legendären Kollegen Peter Kowald zu erinnern, der in diesem Jahr 70 geworden wäre.
Bis Pfingstmontag spielen darüber hinaus Drummer-Genies wie der Norweger Paal Nilssen-Love, der Amerikaner Joey Baron und die Ex-Can-Rhythmusmaschine Jaki Liebezeit. Das schon 1979 in Moers gelandete Sun Ra Arkestra wiederum gedenkt seines Gründungsvaters, dem Jazz-Voodoo-Zeremonienmeister Sun Ra. Hinzu kommen exklusive Moers-Projekte wie die Konzerte der Gitarristen Fred Frith und Arto Lindsay. Auch die Pianistin Julia Hülsmann stellt ihr jüngstes Programm vor, das sie als diesjährige Moerser Improviser in Residence extra für ihren Festivalauftritt geschrieben hat.
»Not Fast Enough«, heißt es. Darin beschäftigt sie sich erneut mit den Texten der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson. Begleitet wird Hülsmann dabei von Saxofonist Hayden Chisholm und Schlagzeuger Moritz Baumgärtner. Und während 2006 bei ihrer ersten auf CD veröffentlichten Dickinson-Hommage »Good Morning Midnight« noch Roger Cicero den Gesangspart übernommen hatte, wird es diesmal der gebürtige Dortmunder Theo Bleckmann sein, mit dem sie bereits ein vielbeachtetes Kurt Weill-Programm erarbeitet hat.
Die Arbeit mit den Werken anderer ist für Hülsmann nicht neu. Sie hat auch schon Gedichte von E.E. Cummings vertont und der Coverversionen von Randy Newman eingespielt.
Die in Berlin lebende Musikerin gilt inzwischen als Patin der deutschen Jazz-Klaviertrio-Kultur. 1997 gründete sie ihre erste eigene Band, der damals schon Bassist Marc Muellbauer angehörte. Und als 2002 schließlich der Schlagzeuger Heinrich Köbberling hinzustieß, war jene Stammformation gefunden, mit der sie mittlerweile europaweit zu einer der gefragtesten Jazzmusikerinnen aufgestiegen ist.
Die Gründe dafür hört man besonders auf einem der bislang drei Alben, die Hülsmann für das Münchner Edellabel ECM eingespielt hat: »The End of Summer«. Selbst wenn sie auf die Pop-Schnulze »Kiss From A Rose« oder auf ein Lied des Spaniers Manuel de Falla zurückgreift, werden die Stücke nicht einfach in simple Jazz-Songs verwandelt. Zu den Rhythmusketten, die Muellbauer und Köbberling anschlagen, entwickelt Hülsmann einen subtilen Ideenreichtum und eine Körperlichkeit, die an die Spitzenleistungen des Nonplusultra-Trios von Keith Jarrett erinnern. Hülsmann weiß nur zu genau, wie man die Blues- und Gospel-Reminiszenzen geschickt einarbeitet, ohne gleich als allzu traditionsbewusste Konservative abgestempelt zu werden.
Mit diesem Verständnis für kammermusikalischen Jazz hat Hülsmann zumindest der in Deutschland stiefmütterlich behandelten klassischen Triobesetzung neues Leben eingehaucht. In letzter Zeit hat sie ihren Musikerkreis allerdings erweitert – so auf dem jüngsten Album »In Full View«. Als viertes Bandmitglied kam der englische Trompeter Tom Arthurs hinzu. Er war es auch, den sich Hülsmann Anfang des Jahres für einen Duo-Abend im Moerser Schlosstheater ausgeguckt hatte, um sich als Improviser in Residence vorzustellen. Wie ihre Vorgänger Angelika Niescier oder Michael Schiefel wird die 46-Jährige immer wieder für längere Phasen nach Moers kommen, um mit Kindern, Jugendlichen und lokalen Musikern zusammenzuarbeiten. Oder sie gibt Hauskonzerte bei Moersern, die über ein Klavier sowie Platz für 20 bis 30 Zuhörer verfügen. Der nächste öffentliche Termin in privat Häusern steht bereits fest: Es ist der 11. Juli. Zuvor absolviert Hülsmann aber noch einen Auftritt vor größerem Publikum – und zwar am 8. Juni um 15 Uhr in der Moerser Festivalhalle.
6. – 9. Juni 2014, Moers-Festival. www.moers-festival.de