»Bei der Geburt gestorben sind schon viele. So zur Welt gekommen wie ich ist keiner.« Es scheint, als sei Viktors Geburt die blutige Ouvertüre für die Brutalität seines späteren Lebens; weil sich sein Körper dabei verkantet, wird er mittels einer zweizackigen Schinkengabel und dem Messer, mit dem man sonst den Lämmern die Kehle durchschneidet, auf die Welt geholt. Wegen seines schiefen und versteiften Körpers muss der Junge fortan ein Korsett mit einer »Rückenspinne« tragen.
Sein »Dorf der Glücklichen« irgendwo in Bosnien-Herzegowina wird nicht von den Balkankriegen der 90er Jahre verschont. Viktor wird während einer Zwangsumsiedelung von seiner Familie getrennt und lebt als Waisenkind in der Gebetsgemeinschaft der Söhne Marias. Als die Kämpfe abflauen, führt Viktors Weg in die kriegsversehrte »Stadt der Brücken«; dort trifft er auf den »einbeinigen Dschib«, den streunenden Hund »Tango« und auf ein rothaariges Mädchen. Eine Schicksalsgemeinschaft auf Zeit entsteht, bis der Junge eines Tages wieder allein ist und sich Richtung Meer aufmacht.
»Wie ich mir das Glück vorstelle« ist Martin Kordićs erster Roman, gerade mal 170 Seiten kurz und geschrieben in einer knappen, einfachen Sprache aus kindlicher Perspektive. Nüchtern, ohne eine anklagende, moralische Einteilung in Gut und Böse, beschreibt Viktor seine Welt, soweit er sie versteht. Die komplexen, ethnischen Verflechtungen der einzelnen Kriegs-Parteien reduziert er aus seiner Sicht auf drei Gruppen – »die Kreuzer, die Mudschis und die Bergmenschen«, die aufeinander schießen. »Wenn du das verstehen willst, musst du den ganzen Tag Radio hören oder einen Menschen fragen, der den ganzen Tag Radio hört. Deshalb spielen die auch keine Musik mehr.« Im Roman schreibt Viktor seine Erlebnisse mit Bleistift akribisch in eine Kladde, fertigt kleine Zeichnungen und legt Listen an, die sich auch im Buch wieder finden. So könnte eine Strategie eines Jungen aussehen, der sich in einer zerstörten Gesellschaft zurechtfinden muss. Das »Land aller Völker«, wie Jugoslawien zu Beginn genannt wird, gibt es nicht mehr, also schafft sich Viktor mit seinen Listen seine eigene, überschaubare Ordnung.
Dieser Roman ist keine Autobiografie, verweist aber auf die Wurzeln und das Schicksal von Kordićs Familie. 1983 wurde er in Celle geboren, als Sohn einer deutschen Mutter und eines kroatischen Gastarbeiters aus Bosnien. Dessen Familie kommt aus einem kleinen Dorf in der Nähe von Mostar, jener »Stadt der Brücken«. Jahrhunderte lang überspannte dort die Brücke »Stari most« nicht nur den Fluss Neretva, sondern auch den gesellschaftlichen Graben zwischen der christlichen und muslimischen Welt, bis sie 1993 im Krieg gezielt zerstört wurde. In den 80er Jahren hatten Kordićs’ Eltern geplant, nach Bosnien zu ziehen. Stattdessen zerfiel das Land, und Teile der weitverzweigten Sippe flohen nach Deutschland.
Martin Kordić, der Herausgeber des Literaturmagazin Bella Triste und künstlerischer Leiter des Festivals »Prosanova« war und heute als Lektor in Köln arbeitet, hat den Krieg nur indirekt miterlebt. In »Wie ich mir das Glück vorstelle« malt er keine blutigen Schlachtengemälde, sondern findet die Grausamkeit und Brutalität in kleinen Details und in den Handlungsweisen der Menschen, bis hin zu Viktor selbst. Der schießt an einer Stelle mit einer Steinschleuder einen Vogel aus dem Himmel, weiß aber nicht, was er mit dem halbtoten Tier anfangen soll, quält es einen Tag lang und wirft es letztlich in den Topf über dem Feuer.
Das Glück hat wenig Platz in diesem Buch. Stattdessen Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit; das Glück liegt in den kleinen Dingen verborgen, und, in Viktors Fall, im Erzählen darüber: »Und wenn es irgendwann mal keine Geschichte mehr gibt, wenn keiner mehr was erzählt, wenn keiner mehr zuhört, ist das die Finsternis. Die Finsternis, aus der hier keiner mehr rauskommt. Auch du nicht. Egal wo du bist.«
Martin Kordić: »Wie ich mir das Glück vorstelle«; Carl Hanser Verlag, München, 2014, Roman, 176 Seiten, 16,90 Euro
Lesung am 16. Mai 2014 im Literaturhaus Köln