TEXT: PETER MICHALZIK
Vollkommen einig war sich die Jury dieses Jahr an vielen Punkten. Sie war sich zum Beispiel sehr einig, dass Leipzig nicht die neue Hauptstadt der deutschsprachigen Dramatik ist. Auch wenn bei der Schlusssitzung ebendort mit Ferdinand Schmalz’ »Am Beispiel der Butter« ein zweiter Leipziger Kandidat es mühelos auf einen der sieben Auswahlplätze schaffte. Auch wenn mit Wolfram Hölls »Und dann« ein weiterer Leipziger Kandidat bereits länger gesetzt war und das auch vollkommen unumstritten war.
Wie Wolfram Höll den Fäden folgt, die sich durch das Gedächtnis eines einst in einer Plattenbausiedlung siedelnden Kindes ziehen, wie die Regisseurin Claudia Bauer daraus eine zugleich heimelige als auch beängstigende Heimatphantasmagorie bastelt, das ist zu eigenwillig, um davon nicht fasziniert zu sein. »Und dann«, der Titel des Stücks, ist für mich zum geflügelten Wort geworden, das verrätselte Stück ist keine leichte Kost, sondern verlangt Mitarbeit des Zuschauers, lohnt diese Mühe aber auf jeden Fall mit der intensiven Erfahrung in einem fremden Bewusstsein anzukommen.
Noch eigenwilliger ist das Butterspiel des Debütanten und ordnungsgemäßen Studenten der Theaterwissenschaften Ferdinand Schmalz. Namensnähen zur Butter sind möglicherweise gewollt und gesucht, auch wenn es im Stück dann mehr um die Milch als die Butter geht. Auch Schmalz’ Stück ist wie das von Höll eine Art Heimatdrama, diesmal durchgespielt am deftigen österreichischen Beispiel. Schmalz ist ein versierter Wortspieler, der mit der Milch und diversen Theoretikern wie Giorgio Agamben macht, was er will. Dabei gewinnt er Einblicke in die österreichische Variante der Gemeinschaftsbildung, die selbstredend auch universell anwendbar sind. Der Jury ging’s runter wie geschmiert.
Einig war sich die Jury auch, dass es zahlreiche Stücke gab, die sie gerne eingeladen hätte, aber nicht einladen konnte. Grund war, sehr einfach, die mangelnde Qualität der Aufführungen. Niemand hätte nach unbeholfenen bis ignoranten Aufführungsbemühungen in Mülheim verstanden, was dieser Text hier soll. Namen werden nicht genannt, ein Fall, der anders liegt, aber des Stückes wegen erwähnt werden muss ist »5 morgen«. Fritz Kater hat ein bemerkenswertes Stück über das Verhalten von Menschen nach einer Katastrophe geschrieben, sein Uraufführungsregisseur Armin Petras, neuer Stuttgarter Intendant (dass die beiden, Kater und Petras, ein- und dieselbe Person sind, ist schon so oft gesagt worden, dass man sich inzwischen fragt, ob sie nicht doch unterschiedlicher sind, als bisher angenommen) – Armin Petras jedenfalls hat nach seinem Abschied aus Berlin (er war dort Intendant des Maxim Gorki Theaters) versucht, für sich mit Katers Text eine neue, hochartifizielle Regiesprache zu erfinden. Das ist noch nicht richtig aufgegangen, trotzdem interessant. Andere Fälle waren so ärgerlich, dass man sich fragt, welche Schritte man zum Schutz der Dramatik vor den uraufführenden Theatern einleiten muss.
Einig war sich die Jury aber auch, dass die Spielzeit 2013/14 nicht der Gipfelpunkt in der Entwicklung der dramatischen Kunst war. In manchen Jahren drängen sich die Stücke auf, in anderen sucht man sie und bangt bis zum Schluss, ob sich genug hervorstechende Kandidaten finden. Und doch sind nun sieben Aufführungen zusammengekommen, die es in sich haben. René Polleschs »Gasoline Bill« ist kein neuer Pollesch, sein munteres Theater- und Theoriekarussell dreht sich hier unverdrossen weiter. Und auch die Bühne dreht sich in diesem Falle, mit Hilfe vier sehr reeller Schauspielarbeiter als Antreiber. An den Münchner Kammerspielen gewinnt dieses rotierende Polleschmaschinchen mit Sandra Hüller, Kristof van Boven und Benny Claessens (Katja Bürkle als vierte spielte schon vor Jahren bei Pollesch) so inspirierte Kräfte im Maschinenraum dazu, dass es neu und wie geschmiert (Sorry, Herr Schmalz) dahin geht, dass dieser um das Ich und den Anderen kreisende Text ein schönes Beispiel für den großen Theaterspaß ist, den man mit Pollesch haben kann. Traue deiner Liebe nicht! Einfühlung ist auch nur Flucht! Und was sind eigentlich Schauspieler, diese Einfühlungskünstler? Das sind für Pollesch keine neuen Einsichten und Fragen, aber ihm brennen sie offenbar immer noch auf den Nägeln.
Während sich Pollesch von ökonomischen Themen etwas entfernt hat, entwickelt der kunstfertige Dramatiker Philipp Löhle den Lebenslauf des Homo oeconomicus, des einzigen Menschen, der in der Finanzkrise eine tragende Rolle für sich beanspruchen darf. Es handelt sich bei Normen, dem Protagonisten, also sozusagen um das Personal der Krise. (Auch in dieser Einzelbesetzung zeigt sich, wie ärmlich die Krise doch ist.) Normen ist nicht sehr auffällig, schon gar nicht böse, eher nett, er versteht sich darauf, seinen Nutzen zu maximieren, und tut so genau das, was nach Meinung der Wirtschaftstheorie der Urtrieb des Menschen ist. Löhle, der Kapitalismusforscher unter den Dramatikern, entfaltet diese seine Geschichte vom Urknall bis zur Krise, von der Geburt bis zum Turbokapitalisten, alles schön logisch und folgerichtig, und am Wegrand findet sich dann doch noch ein wenig weiteres Personal, auf dass Normen nicht so ganz alleine ist. Katrin Lindner hat das am Nationaltheater in Mannheim trefflich ins Szene gesetzt.
Vom Deutschen Theater in Berlin kommt Rebekka Kricheldorfs Gesellschaftssatire »Alltag & Ekstase«. Auch hier wird maximiert und optimiert, auch hier passt sich der Mensch der gnadenlosen Logik des Wirtschaftens an und ein, nur dass sich hier das bunte Personal in seiner ganzen Lächerlichkeit selbst vorführt. Kricheldorf hat etwas Punkiges, Trashiges, eine zuweilen wüste Kruditität, die ihre eigentliche Qualität ist. Hier ist das von der Regisseurin Daniela Löffner und dem Deutschen Theater domestiziert und in eine sehr gut funktionierende Form gebracht. Heraus kommt ein treffliches Spiel aus der Charlottenburger Altbauwohnung, lustige und entlarvende Wiedererkennungseffekte zwischen neuguinesischen Stammes- und neuberlinerischen Ökoritualen sind aber auch andernorts kaum zu vermeiden.
Rimini Protokoll schreibt keine Stücke, das Auftauchen von »Das Kapital« in Mülheim, erst in der Auswahl, dann auch noch als Gewinner des Dramatikerpreises vor ein paar Jahren, hat zu einer Art Desorientierung über das Dramatische überhaupt geführt. Nun hat Rimini Protokoll mit »Situation Rooms« und »Qualitätskontrolle« in der vergangenen Saison zwei Arbeiten gezeigt, wo das Wort in beiden Fällen literarische Qualitäten hat. Wir haben uns für »Qualitätskontrolle« entschieden. In dem Doku-Projekt erzählt die querschnittsgelähmte Maria-Christina Hallwachs aus einem Leben, in dem sie in jeder Sekunde auf die Hilfe anderer angewiesen ist. Hallwachs schildert dieses Leben nicht nur, sie befragt es auch, bis hin zur Frage, ob es lebenswert ist.
Der Favorit des Berichterstatters aber war der »Sprachmusikabend« mit dem schönen Titel »Archiv des Unvollständigen« von Laura de Weck und Thom Luz. De Weck war schon mit »Lieblingsmenschen« einmal in Mülheim. Wie damals zeigt sie sich auch jetzt als Freundin des Ungesagten. Das »Archiv des Unvollständigen« ist aber radikaler und verspielter zugleich. Das Archiv ist ein klassischer Ort der Moderne, zwischen Museum und Staatssicherheit, Thema zahlreicher Ausstellungen und Untersuchungen. Nun wird das Theater zum Archiv, wenn auch ein Archiv des Unarchvierbaren, des Fragments, des Ungesagten und Angedeuteten. Die Bühne wird zum Versammlungsort des Geahnten. De Wecks kleine Szenen rühren an das All und das Nichts, an die gigantomanische Geste wie an das Verschwinden, den Raum zwischen den Zeilen und das Schweigen. Dazu tröpfelt die Musik meist melancholisch durch den Raum der Ahnungen, den die beiden Schweizer de Weck und Luz in Oldenburg wunderschön und mit weicher Skurrilität entfaltet haben.
Uneinig war sich die Jury – naturgemäß – nur über einige Punkte der Auswahl. Damit sind wir bei der allfälligen Frage, was fehlt. Sicher sind es mindestens zwei Aufführungen: Der Österreicher Thomas Arzt zeigt sich mit »Alpenvorland« als der genaueste Sprachbeobachter oder Sprechweisenimitator, den es zur Zeit gibt. Und Maria Milisavljevic hat es mit »Brandung« geschafft, einen Krimi fürs Theater zu schreiben, in dem sich der Zuschauer mit seinen eigenen Vorurteilen verstrickt.
Der Publizist Peter Michalzik ist Mitglied des Auswahlgremiums der Stücke 2014.
»Stücke – 39. Mülheimer Theatertage NRW«: 17. Mai bis 7. Juni 2014, Mülheim an der Ruhr. Parallel zum Dramatikerwettbewerb und seinem Rahmenprogramm finden wiederum die »KinderStücke« statt. www.stuecke.de