TEXT: ANDREJ KLAHN
Der Blick ins Atelier ließe kaum vermuten, dass dort ein Mann am Werk ist, der zum deutschen Ahnherren des dokumentarischen Stils in der Fotografie werden sollte. Im weißen Malerkittel, mit Pinsel und Farbpallette sitzt August Sander vor einem Landschaftsbild. An den Wänden drängeln sich fertig gestellte Gemälde bis über Kopfhöhe hinaus, bewacht von einem Zähne fletschenden Eisbären-Teppich. Aufgenommen wurde das Foto 1905 in Linz, wo Sander ein »Atelier für bildmäßige Photographie« führte, das er wahlweise auch als »Kunst-Anstalt für Moderne Photographie und Malerei« bezeichnete. Zu einer Zeit, als der 1876 im siegerländischen Herdorf geborene Sohn eines Grubenzimmermanns noch nicht an seinem fotografischen Großprojekt »Menschen des 20. Jahrhunderts« arbeitete, das in »absoluter Naturtreue ein Zeitbild unserer Zeit« zeichnen sollte.
In Linz ist der junge Sander noch weit davon entfernt, mit der Großbildkamera Soziologie betreiben zu wollen. Er hat künstlerische Ambitionen, möchte Maler werden, denn der Fotograf gilt noch als Handwerker. Was an den Wänden seines Ateliers hängt, legt die Vermutung nahe, dass Sanders malerische Versuche ganz in der realistischen Tradition des 19. Jahrhunderts stehen. Man könnte auch sagen: Sie lassen in ihrer Naturtreue den fotografischen Blick erkennen. Während die Fotos, die Sander in dieser Zeit anfertigt, mit Retusche und Edeldruckverfahren zum Malerischen tendieren.
Es sollte lange dauern, bis der Autodidakt dann doch noch zum Künstler wird. Mitte der 1920er Jahre, Sander betreibt mittlerweile ein Atelier auf der Dürener Straße im Kölner Stadtteil Lindenthal, entwirft der Fotograf sein später modifiziertes Konzept für die epochalen »Menschen des 20. Jahrhunderts«. Ein »Kulturwerk in Lichtbildern« möchte er schaffen, nach Ständen geordnet und eingeteilt in sieben Gruppen: der Bauer, der Handwerker, die Frau, die Stände, die Künstler, die Großstadt und die letzten Menschen. Und es ist wohl kein Zufall, dass die Idee, Menschen nach Typen zu sortieren, ausgerechnet in der Zeit der unruhigen Weimarer Republik entsteht. Die wilhelminische Gesellschaft befindet sich in Auflösung und mit ihr all das, was Lebensentwürfen wohl oder übel Halt verleihen kann: Klassengrenzen werden durchlässiger, Hierarchien geraten durcheinander, Routinen und Konventionen werden neu ausgehandelt. In diesen Jahren bildet sich eine Art Gegenprogramm zur sozialen Mobilität heraus, das Helmut Lethen einmal als »Furor des Rasterns« beschrieben hat. Auf der Suche nach Stabilität in der Unordnung wird klassifiziert und typologisiert: von der Handschrift über den Charakter und Körperbau bis hin zur Rasse.
Vor diesem Hintergrund hatte der Sozialwissenschaftler Max Weber seine Zunft in dem 1920 erschienenen Aufsatz »Wissenschaft als Beruf« mit viel heldenhafter Emphase auf Nüchternheit eingeschworen. Wie später auch Sander, fordert er ein rückhaltloses Bekenntnis zum Zeitalter ein. Es gelte, dem »Schicksal der Zeit in sein ernstes Antlitz« zu blicken und es »männlich« zu ertragen. August Sanders kurze Programmschrift, die anlässlich der ersten Ausstellung seiner »Menschen des 20. Jahrhunderts« im Kölnischen Kunstverein 1927 erscheint, liest sich wie ein Echo auf solch neusachliche Appelle. Er müsse, heißt es da, als »gesunder Mensch so unbescheiden« sein, »die Dinge so zu sehen, wie sie sind und nicht wie sie sein sollen oder können«. Nichts, so lässt Sander sein Publikum wissen, sei ihm verhasster als »überzuckerte Photographie mit Mätzchen, Posen und Effekten«.
Damit ist der Konzept-Künstler August Sander geboren, der das Gesellschaftsporträt seiner Zeit aus einer Vielzahl von Einzelbildern zusammensetzen will, um hinter dem Individuellen die allgemeine Struktur sichtbar zu machen. Der 2005 verstorbene Sammler und Kurator Leo Fritz Gruber, der nach dem Krieg maßgeblich dazu beigetragen hat, Sander bekannt zu machen, hat dieses gewaltige Vorhaben mit der Tätigkeit des Insektenkundlers verglichen: Sander habe die Menschen wie Schmetterlinge mit der Kamera aufgespießt.
Nur dass die Beute des Entomologen nicht in Schaukästen, sondern in Mappen aufbewahrt wird. Allein für die Gruppe »Der Bauer«, die so genannte Stammmappe der »Menschen des 20. Jahrhunderts«, sah das Urkonzept sieben Untergliederungen vor, für den Jungbauern genauso wie für das Bauernkind und seine Mutter oder den Bauern und die Maschine. In seine Mappen fügt Sander auch solche Porträts ein, die Jahre zuvor in einem ganz anderen Verwertungszusammenhang entstanden sind. Der Großteil ist Auftragsarbeit. Bis zuletzt wird der Künstler August Sander also ein Zwilling des Berufsfotografen bleiben und sich darin von den industriearchitektonischen Archäologen Bernd und Hilla Becher unterscheiden, die Sanders Einfluss auf die eigene typologische Arbeit immer betont, jedoch eine eigens für ihr Vorhaben ausgeprägte Bildsprache entwickelt haben.
Der Fotograf betreibe »vergleichende Photographie«, schreibt Alfred Döblin in seinem Vorwort zum Bildband »Antlitz der Zeit«, in dem Sander 1929 sechzig seiner »Menschen des 20. Jahrhunderts« erstmals in Buchform vorstellt. Darin finden sich die heute berühmtesten Gesichter aus Sanders Sammlung. Als Vintage-Prints sind sie in der Kölner Ausstellung zu sehen: der 1928 aufgenommene Konditor, ein dickleibig-kurzhalsiger, schnauzbärtiger Mann im fleckenlos hellen Kittel. Sein Blick ist – wie auf nahezu allen Sander-Porträts üblich – direkt in die Kamera gerichtet. In der rechten Hand hält der Kahlkopf einen Löffel, mit dem er in einem silbernen Bottich herumrührt. Dahinter lösen sich die Konturen der Werkstatt in Dunkelheit und Unschärfe auf.
Oder die berühmten Jungbauern, die Sander 1914 auf einem Feldweg im Westerwald abgelichtet hat. Drei herausgeputzte junge Männer im Sonntagsanzug, die sich mit lässiger Eleganz auf ihre Spazierstöcke stützen. Erwartungsvoll sehen sie aus, stolz, vielleicht auch ein bisschen hochmütig. Dass dieses Bild zu einer Ikone der Fotografie wurde, lässt sich schwerlich durch die handwerkliche Qualität der Aufnahme erklären. Eher schon dadurch, dass die Frage nach der Richtung, in die diese Bauern unterwegs sind, von der Weltgeschichte beantwortet worden ist. Kurz nach der Aufnahme bricht der Erste Weltkrieg aus, und einer der Jungbauern wird ihn nicht überleben. Mit dem Wissen um diese historische Pointe sieht der Betrachter drei Männer auf dem Weg zum Totentanz.
Die Ausstellung verengt den Jubiläums-Fokus jedoch nicht auf den Säulenheiligen der sachlichen Porträt-Fotografie. Gezeigt werden neben Landschaftsaufnahmen auch Kuriositäten wie ein Porträt des zerzausten Fotografen nach dem Mittagsschlaf, aufgenommen von seiner Assistentin; dazu weniger bekannte Werkgruppen, die teils schon in Ausstellungen der Photographischen Sammlung zu entdecken waren. Darunter etwa eine kleine Auswahl aus dem über 300 Aufnahmen umfassenden Sardinien-Konvolut. Entstanden ist es 1927 während einer Reise, die Sander zusammen mit dem Schriftsteller Ludwig Mathar unternommen hat. Sander wollte den fernen Kulturraum mit der Kamera vermessen und Szenen des einfachen sardischen Landlebens einfangen. Seinem Programm bleibt er dabei auch fernab der Heimat treu und porträtiert die Einheimischen meist frontal bei natürlichem Licht.
Dass Sander lange Zeit in Kategorien der bildenden Kunst dachte, zeigt eine »Studien, der Mensch« betitelte Werkgruppe. Unter diesem Titel versammelt er an Skizzen erinnernde Detailansichten von Händen und Fingern, die er in den 1920er Jahren teils aus vorhandenen Porträts heraus vergrößert, teils eigens für die Serie anfertigt. Knapp hundert Jahre später darf man darin kaum mehr als Fingerübungen eines Mannes erkennen, der sich selbst wohl nie hätte träumen lassen, dass er einmal als Alter Meister in die Geschichte der Fotografie eingehen würde.
»August Sander – Meisterwerke und Entdeckungen«, bis zum 3. August 2014 in der Photographischen Sammlung / SK Stiftung Kultur. www.sk-kultur.de