TEXT: MICHAEL STRUCK-SCHLOEN
Rein äußerlich gehört Jürgen R. Weber zu jenem Typ von Film- und Fernsehmachern, bei denen Coolness und hanseatisch-trockener Humor, schwarze Sonnenbrille und die rundlichen Anzeichen der Genussliebe eine unwiderstehliche Mischung abgeben, von der man nicht genau weiß, ob sie einfach gelebt oder präzise inszeniert ist. Das Inszenieren zumindest hat Weber studiert – in den achtziger Jahren bei Götz Friedrich im Hamburger Studiengang »Musiktheater-Regie«, der manche Talente an unsere Opernhäuser geschickt hat.
Nach längerer Pause, ausgefüllt mit Drehbüchern und Regiearbeiten für Kinder- oder Krankenhausserien (»OP ruft Dr. Bruckner«), ist er 2005 zum Musiktheater zurückgekehrt – und war enttäuscht vom herrschenden Regietrend. »Ich liebe die Oper. Aber ich bin auch ein Freund von Comics und Superhelden, von Musicals, fantasievollen Kostümen, Stepptanznummern. Wenn ich in Deutschland herumreise und mir an Wochenenden mal drei Inszenierungen hintereinander ansehe, erlebe ich leider meist nur schwarzweiße Räume, bevölkert von Sängern in heutigen Anzügen.«
Das Gefühl, dass es da zu intellektuell und lustfeindlich zugehe, reizt Weber seither zum Widerstand. Seine eigene Regie-Ästhetik liebt es bunt und stilistisch offen, ohne sich dem Unterhaltungsdelirium anzubiedern. Wo er geht und steht, selbst beim Inszenieren fotografiert und filmt er Sängerinnen, Beleuchter, Souffleusen, Dramaturgen, Musiker, deren mehr oder weniger gewichtigen Aussagen sich dann auf Webers Opernblog wiederfinden (https://juergenrweber.wordpress.com/). So entsteht vom harten Operngeschäft ein recht spielerischer Eindruck. So wird auch das neue Stück, das in Bonn soeben Premier hatte, seiner bedeutungsvollen Schwere entledigt, die mit den Namen Franz Grillparzer und Walter Braunfels verbunden sind.
»Der Traum ein Leben«, so hat der Wiener Dramatiker Grillparzer in fast kalauernder Abwandlung eines Titels von Calderón sein »Dramatisches Märchen« überschrieben, mit dem er 1834 am Wiener Burgtheater einen letzten großen Erfolg landete. Sicher war es kein Zufall, dass sich Braunfels (1882 bis 1954), der als Komponist und Direktor der Kölner Musikhochschule zu den respektablen Größen im Musikleben der Weimarer Republik zählte, gerade nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten diesem Stoff zuwandte, der eine Menge opernhaftes Zauberspiel, aber auch latenten Zeitbezug ermöglichte.
Der Protagonist Rustan nämlich ist ein ruheloser Mensch, den es aus der wohlgeordneten Realität zum Abenteuer drängt. Bevor ihn Schwiegervater und Verlobte in die Welt entlassen, erlebt er einen Traum, in dem ihm sein Wunschleben als wenig begehrenswerte Mischung aus Intrige, Totschlag, Machtpolitik, Schuldgefühlen und Selbstmord begegnet. Wieder erwacht, akzeptiert Rustan das jetzige Leben in seiner Begrenztheit – so wie sich Grillparzer vom System Metternich und Braunfels vor Hitlers Kulturpolitik in die innere Emigration zurückzogen, beide durchaus wider Willen.
Braunfels, der als konvertierter Katholik nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend auf religiöse Themen verfiel – seine Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna gehörten zu den letzten Projekten des schon kranken Christoph Schlingensief –, träumte mit dem Grillparzer-Stoff noch einmal von der großen, fantastischen Oper. Nach Beendigung der Komposition Anfang 1937 zeigte der Wiener Opernchef Bruno Walter Interesse an einer Uraufführung, die dann Hitlers Einmarsch in Österreich zunichte machte. So fand die erste (und bislang einzige) szenische Aufführung erst 2001 in Regensburg statt.
Ein zweitrangiges Stück also? »Es gibt meist einen Grund, warum bestimmte Komponisten populär wurden und andere nicht«, sagt Will Humburg, der nach seinen überragenden Erfolgen mit Opern von Franz Schreker jetzt auch den »Traum« in Bonn dirigieren wird. »Aber mich reizt an solchen Aufgaben das sportliche Moment: also dieses naive Märchen so spannend und plastisch zu realisieren, dass die Leute es mögen – obwohl es weniger gut gebaut ist als Opern von Strauss oder Schreker.«
Zuweilen aber verhindert nicht der Mangel an Popularität und Wagemut, sondern der Fehlerteufel die Ehrenrettung eines lohnenswerten Stücks. Das Notenmaterial von »Der Traum ein Leben« war in einem beklagenswertem Zustand und musste teils neu hergestellt werden, sehr zum Missfallen von Humburg, der jede Klavierprobe persönlich leitet – ein absoluter Ausnahmefall unter heutigen Dirigenten, die lieber ihre Assistenten vorschicken. Humburg arbeitet sich peu à peu in diesen musikalischen Kosmos hinein, der zwischen Wagner, Strauss, Zemlinsky und Hindemith einen eigenen Tonfall sucht.
»Gott sei Dank, Sie schreiben noch Musik«, lobte der Kollege Hans Pfitzner, nachdem er Braunfels‘ Meisterwerk, »Die Vögel« nach der Komödie des Aristophanes gesehen hatte. Auch »Der Traum ein Leben« ist ein Fest der Orchesterfarben und höchst kompetent für Sänger geschrieben. Mit dem Tenor Endrik Wottrich und der Sopranistin Manuela Uhl – beide vielfach Wagner-erprobt von Bayreuth bis Düsseldorf – wurde in Bonn eine starke Besetzung für das hohe Paar Rustan und Gülnare gefunden; das Ensemblemitglied Mark Morouse singt den Mohren Zanga, der in der Oper unablässig zum Bösen anstachelt.
»Es ist wie ein Alptraum à la Hitchcock, in den man sich immer tiefer verstrickt und schuldig wird«, sagt Weber über Rustans Psychotrip zu den Eros- und Machtfantasien seines Unterbewusstseins. Aber im dialektischen Widerspruch zwischen Realität und Traum erkennt Weber auch seine eigenen Probleme mit der herrschenden Theaterästhetik und seine Sehnsucht nach dem blutvollen Theater. »Ich spiele deshalb mit dem Diskurs über das Regietheater, das ich als Bedrohung des wahren ‚Theaters des Traums‘ ansehe. Bei mir ist Rustan in der Realität ein melancholischer, frustrierter Tenor, der dieser Regietheater-Welt entfliehen will. Mit dem Traum aber verändert sich alles. Der Traum ist die Chance des Theaters.«
Hank Irvin Kittel, ausgebildeter Maler und Ausstattungsleiter am Theater Erfurt, hat diese Welt zwischen dem herrschenden und dem erträumten Theater in ein wandelbares Bühnenbild mit vielen Bild-Identitäten gefasst. Hinzu kommen Video-Projektionen, mit denen Weber den Bühnenraum erweitert, Texte und Plakate einblendet oder die Personen der Oper mit ihren psychischen Defekten und ihrer Emotionalität kommentiert. Wenn man dahinter eine Art moderne »Zauberflöte« vermutet, tut man weder dem Komponisten Unrecht noch dem Regisseur, der sich nicht für das dramaturgisch Wasserdichte, sondern für die offenen Fragen interessiert: »Ich bin dagegen, dass alle Gedanken bebildert werden, die einem zu einem Stück einfallen. Das empfinde ich als Einengung für den Zuschauer, der schon selbst ein bisschen nachdenken sollte.«
Aufführungen von »Der Traum ein Leben«, am 6. und 12. April, 7., 11. und 30. Mai 2014; Opernhaus; www.theater-bonn.de