GLOSSE: ULRICH DEUTER
Als ein aus Viersen gebürtiger junger Mann in den 1980er Jahren sein Studium in Berlin begann, schämte er sich jedes Mal, wenn die Frage nach seiner Herkunft aufkam, die Wahrheit zu bekennen. Im Vorgriff auf eine angestrebte weltmännischere Zukunft gestattete er auch der Rückschau einen kartografisch größeren Maßstab und gab stets Düsseldorf als seine Heimatstadt an. Dabei war er froh, beim Umzug von Krähwinkel in die Weltstadt seinen alten Golf auf der Strecke gelassen zu haben, das unübersehbare VIE auf dessen Nummernschild hätte die falsche Vergoldung seiner Abkunft krachend abplatzen lassen.
Es waren damals die letzten Jahre einer Epoche, in der man sich auch dafür schämte, seine Wäsche noch von der Mama waschen zu lassen und »Der Mann ohne Eigenschaften« nicht gelesen zu haben – allmählich wurde eine Generation tonangebend, die von Kindesbeinen an gewohnt war, jeden Konflikt als Exposition von etwas Komischem anzusehen und jede Komplexität als Kuriosum. Und dann, im Januar vor 30 Jahren, startete ja auch das Privatfernsehen, in Westdeutschland begann die ästhetische Diktatur des Proletariats. Während das historische von Marx und Bebel stolz gewesen war auf seine Klasse, aber nicht auf seine Ketten und fleißig studierte, was bürgerliche Bildung hergab, war das nun in der Bundesrepublik zu medialer Macht gelangende eingebildet auf das, was es eben nicht konnte. Was ihm abging. Was ungeschlacht an ihm herabhing. Was ihm zu sauber, diffizil, fremd oder elegant war. Unbildung, Niedertracht, Grobfühligkeit, Hohn wurden leitmedial geadelt und zum Knigge einer ganzen Gesellschaft. Mickrig wurde groß, simpel reizvoll, ignorant emanzipiert, prekär urwüchsig. Heute wäre es kein Anlass mehr für Scham, in einem Auto mit dem Nestnummernschild VIE durch Berlin zu paradieren, im Gegenteil. Ein Jahr Erfahrung mit der Wiedereinführung abgeschaffter Kleckerkennzeichen zeigt: Das groß Denkende, Großstädtische ist völlig im Rückzug. Kein K, D, E, W mehr zu sehen, überall auf den Straßen nur noch WAT, CAS, MO, WAN, BOH, DIN, JÜL, LÜN, PRÜ, WIT und GLA.
»›Ich bin ein Wicht – und das ist auch gut so!‹ Das patzige Motto ist Landesmaxime geworden. Statt reglos vor Scham unter einer Autobahnbrücke der A42 darauf zu warten, dass ihr Alt-BMW zu Ende verrostet, schrauben sich jetzt männliche Wanne-Eickeler ein frisch gepresstes Nummernschild ans Heck und verkünden qua Retrokürzel WAN ungenant, aus einem Ort zu stammen, wo Autos deshalb tiefergelegt sind, damit sie auch noch unter der niedrigsten Messlatte durchkommen. Geben Wattenscheider per WAT-Schild für jedermann sichtbar zu, kein Bürger des quirligen Bochum zu sein, sondern einer kommunalen Verlegenheitslösung anzugehören, die getroffen wurde, um das Straßenstück zwischen Essen und Bochum nicht so leer wirken zu lassen.
Ähnlich Prüm in der Eifel. Dort ist nichts, der ganze Ort nur um einen Buchstaben ausgedehnter als die drei, die die geschätzt 20 in seinen Mauern (?) zugelassenen Fahrzeuge jetzt wieder vorn und hinten an die Stoßstange kleben dürfen. Trotzdem wird PRÜ lieber gewählt als das Kürzel des Kreises Bitburg.
Am schlimmsten aber Bocholt. Hier zu leben war schon immer als außergewöhnliche Belastung steuerlich absetzbar. Um die Behinderung abzumildern, war den Bewohnern des mit dem Begriff Stadt zu Unrecht bezeichneten Durcheinanders von Hohlräumen im Kreis Borken die Pflicht zum Zeigen des diskriminierenden BOH am Fuhrwerk 1975 erlassen worden. Jetzt sind die drei Buchstaben wieder genehmigt, und siehe da, unzählige Bocholteraner präsentieren sie so hemmungslos wie Truthähne ihren roten Hautlappen!«
Derart erregt sich unser Viersener Ex-Student. Was will er? In 30 Jahren hat er es nicht fertig gebracht, auch nur aus Berlin herauszukommen.