TEXT: ANDREAS WILINK
25. März 1990. Im Düsseldorfer Schauspielhaus öffnet sich der Vorhang: Ein schöner junger Mann schlägt nackt ein Rad. Später wird ein Vater seine Töchter begrabschen. Ein Königsdrama über den Trieb als Wille zur Macht im Renaissance-Rahmen, umspielt von Verdis Musik. Shakespeares »Lear«, inszeniert von Werner Schroeter, musste am Premierenabend fast abgebrochen werden. Das Publikum verließ türenschlagend das Theater.
21. Juni 1997. Der Eiserne Vorhang geht hoch – ein tableau vivant. Eine Gruppe alter Männer, gewandet in schwarzen Damenroben, und die handelnden Personen des Dramas füllen in gestalteter Ordnung die Bühne. 13 Minuten steht das Tableau. Dann schließt sich der Vorhang. Pause, bevor Einar Schleefs »Salome« mit den Jung-Diven Ursina Lardi und Bibiana Beglau auf steiler Rampe exekutiert wird. Das Premierenpublikum ist außer sich vor Wut. Das »Salome«-Ritual des genialen Querkopfs Schleef ist Lust und Liturgie, stiller Schrecken und schreiende Katastrophe, Innehalten und Ekstase, hammerharte Poesie und aufs Schlimmste aus. Düsseldorf bemerkt es zuletzt.
29. September 2005. Sieben nackte Männer sudeln im Modder und überschütten sich mit blutroter Farbe. Jürgen Gosch inszeniert »Macbeth« als spieltollen, freien Putsch gegen das Illusionstheater in einem vom Naturalismus fernen Kunstraum. Theater, das sich über seine Methoden selbst aufklärt. Das Publikum kann die Invasion der Barbaren nicht fassen, der Spiegel souffliert und polemisiert gegen das »Ekeltheater«. Am Ende des Tages ist dieser Abend das Ereignis des Jahres.
Drei »Skandale«, in deren Anschluss der Boulevard von »Porno« sprach und aus kulturversiertem Munde Worte wie »Verstoß gegen die Menschenwürde«, »entartete Kunst« und »Sauerei« fielen. Drei Verschwörungen gegen den Apparat, die bloß als Affront wahrgenommen wurden. Wo Theater als Hort der Repräsentation genommen wird, ist es nicht leicht mit der ästhetischen Erziehung des Menschen – was mit pädagogischem Appeal nicht zu verwechseln ist. Dafür wären Schroeter, Schleef, Gosch die allerfalschesten gewesen. »Nichts Gefährliches und Riskantes darf uns fremd bleiben«, fordert Cioran. Das Gegenteil ist der Fall. Weshalb? Woher die Trägheit, der Mangel an Urteilskraft, Interesse an und Akzeptanz von künstlerischen Positionen? Eine schlüssige Antwort fehlt. Ursachenforschung fördert mehr Stimmungen zu Tage als harte Fakten. Freilich ein Empfinden mit Gründen, das hinter vorgehaltener Hand allgemein bestätigt wird.
Von Michael Huthmann etwa, unter Volker Canaris Chefdramaturg und ein Geisteskopf, halb altrömischer Philosoph, halb deutscher Professor mit theologischem Impetus. Bei einem Treffen an seinem Wohnort Stuttgart spricht er in deftigem Luther-Deutsch von »des Fleisches Blödigkeit« mit Blick auf das Düsseldorfer Milieu. Kann indes auch akademisch formulieren: Dem Publikum fehle es an Gedächtnis und Sinn für die »Präsenz von Gegenwärtigkeit« auf der Bühne. Er spüre in Düsseldorf kein »Pneuma«, man sei »profan und seelenlos«.
Anekdoten passen ins Bild. Als in den Siebzigern der Nachfolger für Karl-Heinz Stroux gesucht und auch der linke Peter Palitzsch zum Kennen-lernen geladen wurde, traf man sich im Breidenbacher Hof; anschließend hätten kommunale Kommissionäre Kuchenpakete aus dem Hotel mitgehen lassen und sich dann für (Uli) Brecht entschieden – denn was soll man den Schüler nehmen, wenn man den Meister haben könne, meinte man. Wenigstens dem Namen nach. Das ging schief.
Die Stadt der Kunstrevolten, von Beuys, Nam June Paik und Immendorff, des Punk auf der Ratinger Straße und der Becher-Schule nimmt das Theater – den weich geschwungenen Pfau-Bau, gestrandet auf dem Pflaster wie ein Weißer Wal – nicht mehr als Ort für Diskurse an. Nebenan, in der Rheinoper, beim »Tannhäuer« wurde im Jahr 2013 unhinterfragt die Motivation für den psychischen Kollaps einiger Premierengäste nicht etwa bei Verdrängungs-Mechanismen gesucht, sondern nur bei der Zumutung auf der Bühne, die Bilder vom Holocaust mit Wagner kurzschloss. Das nur nebenbei. Huthmann spricht ausgesucht liebenswürdig von »Kleine-Leute-Mentalität«.
Was ist los mit dem Schauspielhaus, mit Publikum und Freundeskreis, seiner Öffentlichkeit, den Trägern, ministeriellen und kulturpolitischen Sachwaltern? Verkennung auf breiter Front. Der aktuelle Renner im Großen Haus ist die Operette »Im weißen Rößl«. Keinem Intendanten, auch nicht erfolglosen wie Amélie Niermeyer und dem nach kurzer Zeit demissionierten Staffan Holm, kann der Versuch abgesprochen werden, den Panzer zu knacken. Und andere Szenen zu gewinnen – Universität, Kunstkreise, Akademie, die multinationale community. Vergebens. In dem Theater mischen sich keine Gesellschafts-Gruppen. Man spürt nicht den Stolz der Stadt aufs Theater wie in Bochum, keine Mobilisierung in der Krise, wie es in Köln unter Karin Beier geschah. Das Publikum will bei Laune gehalten werden.
Ein ehemaliger Beamter aus der ministeriellen Kulturetage sieht als Problem das nicht eindeutige Selbstverständnis der Stadt, ob sie nun »modern« sein wolle oder nicht: »Das Theater gilt hier nichts.« Ein halbes Stadttheater und ein halbes Staatstheater, aber kein Theater für die Stadt – ausweislich der betonverwüsteten Insellage – und kein Theater für Nordrhein-Westfalen, das die Ruhrtriennale als ihren theatralen Kürlauf betrachtet und sich von einer prominent besetzten Kultur-Weisen-Kommission schon die Frage stellen ließ, ob nicht etwa das Schauspielhaus Bochum den Titel eines Staatstheaters verdienen würde.
Es fehlt eine Idee für das Schauspielhaus. So gestaltet sich die Intendantensuche regelmäßig als schwierig. Die A-Kategorie ziert sich, obgleich das Haus in seiner optimalen Ausstattung und mit drei Spielstätten (das aufwändige neue »Central« ist indes kaum noch in Betrieb) in diese Liga gehörte – neben Stuttgart, Frankfurt und Hamburg, wenn nicht Berlin und München. Nehmen wir als Vergleich die Münchner Kammerspiele, deren Publikum sich einer Schule des Sehens unterzog und nach Dieter Dorn und Frank Baumbauer den Weg bereit fand für Johan Simons und demnächst für Matthias Lilienthal. Weder Simons noch Lilienthal wären für Düsseldorf vermittelbar – zu experimentell, salopp, offen für andere Formen und Sprachen, zu radikal im ästhetischen Zugriff, zu frei für klassischen Repertoire-Betrieb. München ist aber doch nicht naturgemäß aufgeschlossener als Düsseldorf. Seltsamerweise, trotz des kommoden Spielplans und der kuscheligen Begleitung durch die Stadt-Zeitung Rheinische Post, hat das Haus eine schlechte Auslastung, von »Momo« und dem »Rößl« geschönt. Das Schauspielhaus ist aus der Mode. Bloß eine Frage von Chic?
Zur Klimafrage gehört ein technokratisches Verständnis von Kunst und Kunstbetrieb, Borniertheit und Verzagtheit, wenn sich der von den Gesellschaftern erwartete Erfolg (ohne ausformulierte, programmatisch durchdachte Basis) nicht gleich einstellt. Man hat, auch baulich, den Eindruck, als sei die Zeit stehen geblieben – in den Siebzigern und der Ära Stroux, der in seiner Person mit imperialem Gestus zeitkonform bundesdeutsche Wirklichkeit inszenierte. Danach punktete Günther Beelitz bis 1986, erreichte fast fünf Millionen Zuschauer und machte Düsseldorf 1983 zum »Theater des Jahres« mit einem für Mut zur Zeitgenossenschaft gerühmten Spielplan. Verdammt lang’ her. Volker Canaris (1986-1996) konnte dank seiner rhetorischen Überlegenheit meistens obsiegen und konzentrierte das Profil auf einige starke Regie-Handschriften (Gotscheff, Schroeter, Mouchtar-Samorai, Beier).
Holm und sein Konzept der Internationalisierung, so falsch und mit den falschen Exponenten es besetzt gewesen war, hatte auch keine Chance, weil es nicht gestützt wurde. Für eine getroffene Entscheidung müssen die Entscheider auch eine längere Frist haften wollen! Die kommunale Kulturpolitik steht sich selbst im Weg und behindert sich im Dialog mit dem Land, so dass eher ein Disput daraus wird. Die Farbenlehre (schwarzes Düsseldorf / rot-grünes Land) und der Vorbehalt gegenüber der reichen Landeshauptstadt ätzen wie Gift. Bei der NRW-SPD existieren Planspiele des Finanzministeriums, das Land möge sich als Gesellschafter aus dem Schauspielhaus zurückziehen und es der Stadt alleinverantwortlich überlassen.
Die künstlerische Misere begleiten Pleiten und Pannen. Die Findungs-Kommission für Holms Nachfolge, ohnehin kontraproduktiv besetzt, hatte ein Leck, durch das mögliche Kandidaten-Namen sickerten, die allerdings kaum zur Verfügung gestanden hätten oder es nun nicht mehr taten. Aus den Kulissen munkelt es, eine Frau würde Intendantin. Andrea Breth wohl nicht, obwohl die auf der Wunschliste stand. Auch der Name Sven-Eric Bechtolf kursierte bis zu dessen Absage. Als Schauspieler großartig, spielte der 56-Jährige u.a. am Thalia Theater und an der Wiener Burg, inszenierte an der Oper Zürich und leitet derzeit das Schauspiel der Salzburger Festspiele. Smart, Ego-stark, eher konservativ und als Regisseur konventionell gediegen. Für Düsseldorf wäre er der Richtige gewesen: Mit der Politik hätten sich seine Umfangsformen prima vertragen – mit der Society auch. Die Einzel- oder Geschwisterlösung Carp (Dramaturgin Stefanie und Intendant Peter) geistert noch durchs Foyer. Nichts gegen die Qualitäten Peter Carps, in Oberhausen das Bestmögliche zu machen trotz Widrigkeiten. Nichts gegen die widerborstige Kreativität Stefanie Carps. Aber nach Mainz (Badora) und Freiburg (Niermeyer) kann es doch nicht sein, dass die Provinz das einzige Reservoir bietet.
Zu allem Überfluss klafft ein finanzielles Loch: ein Defizit von 5,4 Millionen Euro, entdeckt im Jahresabschluss 2011/2012. Bilanz-Kapriolen. Für die Kulturministerin und Aufsichtsratsvorsitzende Ute Schäfer wie für Oberbürgermeister Dirk Elbers sehr zu Unzeit, wo Konsolidierung ansteht. Eine Blamage. Schließlich sollte ein Aufsichtsrat prüfen können, was ihm an Zahlen vorgelegt wird. Interims-Intendant Manfred Weber, seit 2002 kaufmännischer Geschäftsführer und als Garant des Soliden von der Stadt favorisiert, fühlt sich von den Vorwürfen der Ministerin beschädigt und sieht sich nicht als hauptverantwortlich für das Minus. Wer oder was denn? Die Umstände? Die Verhältnisse? Eine aktuelle Bewertung durch Wirtschaftsprüfer lässt wenig Gutes für Weber ahnen. Klüger wäre gewesen, er hätte frühzeitiger kundgetan, nicht als künftiger Intendant zur Verfügung zu stehen. So aber ist seine Rolle zweideutig und interessegelenkt. Zerrieben von divergierenden Haltungen der Gesellschafter Stadt und Land, die kein stringentes gemeinsames Konzept haben, personifiziert Weber das gesamte Dilemma. Es Düsseldorf bequem zu machen, darf die Lösung nicht bleiben.
»DER SPIELER« ODER WIE MAN IN DIE RÖHRE SCHAUT
Doch, siehe da, Mitte Januar eine Unbequemlichkeit: Dostojewskijs »Der Spieler« zeigt Theater, wie es sich für ein Haus wie Düsseldorf gehört und lange fehlte. Wobei Gast-Regisseur Martin Laberenz eher karikierend die interne Misere, scheinbar aus dem Stegreif, zur Sprache bringt: Michael Abendroth in der Rolle von Dostojewskijs Pleite-General spielt auf die verzockten 5,4 Millionen, das leer gefegte Parkett und die verantwortlichen Dilettanten an.
Es läuft rund. Die Bühne: ein aufgeschnittener Trichter, der sich dreht wie ein Hamsterrad. Oder ein Roulette, denn wir sind in Roulettenburg, Dostojewskijs fiktiver deutscher Stadt, zusammengebaut aus Wiesbaden und Bad Homburg. Geld um jeden Preis: Spielen als potenzierte Metapher des ökonomischen Prinzips, in dem die paar Menschen um die Familie des klammen Generals Sagorjanskij gefangen sind, voran der Hauslehrer Alexej Iwanowitsch. Die Motorik des Edgar Eckert – Hände, Füße, Augen, Zunge, der ganze Körper – verrät den Suchtkranken und seine Selbstvergeudung Alles muss raus. Ist in Aufruhr. Überschlägt sich. Er gibt seinem enthemmten Schnell-Sprech mit kippender Stimme Form und Struktur, nicht nur unter Konditions-Aspekt eine Meisterleistung. Martin Laberenz hat Eckert und dessen Gegenmodell, den Schauspieler Sebastian Grünewald als stoischen Engländer Mister Astley, der gedankenvoll, undurchdringlich, in wacher Schläfrigkeit an der Rampe sitzt, während über ihm der Irrsinn abgeht, aus Leipzig nach Düsseldorf gebracht und dazu ein luxuriöses Team mit Bühnenbildner (Volker Hintermeier) und Kostümbildnerin Adriana Braga Peretzki, die verschwenderisch schöne Kleider entworfen hat.
Dostojewskijs Roman macht sich locker: als lässige Fantasie, zerstörerisch, aber munter; als kokette, offensive Reflexion, dynamisch, aber voll ausgebremst; als Verständigungs-Verhinderungs-Drama bei Sprach-Beschleunigung; als Trieb-Geschehen und dessen arretierendem Gegenteil. Überspannung und Unterspannung wachsen aus einer Wurzel. Manchmal ist die Exaltation zwingender, als deren Herleitung. Aber wirkungsstark.
Zum Beispiel bei Karin Pfammatter als hand- und charakterfester reicher Großtante, die total der Sucht verfällt, sich bis auf die bloße Haut auszieht, in Super-Manie steigert und einen Nackttanz aufführt, der aus Roulettenburg ein Neu-Babylon macht. Und bei Anna Blomeiers Polina, die Alexej liebt, der sie aber »verspielt« und die nach einem monologischen Seelen-Strip vom Marquis des Grieux, ihrem Liebhaber, abgeschleckt wird in einem Akt äußerster Demütigung.
Eigensinn, das Störrische und Übermütige sind in der Fassung größer, als die Verzweiflung, beides indes wird zur Sinnkrise und Symptom für Zweifel am Lebensentwurf. Allesamt sind es Anti-Rationalisten und Anti-Kapitalisten, die den Zufall vergötzen und zugleich nach Gewinn und Verlust rechnen. Gewiss hätte das straffer, hätten Roman-Schleifen gelöst sein dürfen, andererseits braucht es für die Stimmung, die Raum und Zeitgefühl rhythmisch herausfordert, das Vakuum mit Stillstand. Laberenz ist beherzt und leidenschaftlich im Zugriff, kreiert tolle Szenen, noch wenn er gelegentlich ins Leere greift und die unkonkrete Bühne ihm einige Mühe bereitet. Die fast dreieinhalb Stunden (zumal nach der Pause im stärkeren zweiten Teil) erinnern an die traurige Verschwendung des »Großen Gatsby«. Ein exzessiver, explosiver Putsch. Alexej endet als großer Scheiternder. Alle schauen in die Röhre. Die Investition aber hat sich gelohnt.
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