TEXT: ALEXANDRA WACH
Aus dem berühmten »Selbstporträt mit zwei Kugeln im Spiegel« von 1928 schaut ein selbstbewusstes, stark geschminktes Frauengesicht. Der schwarz gefärbte Bubikopf weist seine Trägerin als kosmopolitische Garçonne aus. Mehrere Räume öffnen sich scheinbar durch den Einsatz des hochrechteckigen Spiegels. Die Fotografin blickt aus der Leere in das Zimmer, in dem sich die Kamera befinden muss. Ihre Beine wirken wie abgeschnitten, dafür scheinen die Kugeln die Stelle der Brüste einzunehmen. Sie reflektiert das Wesen einer fotografischen Realität, die durch optische Tricks die Welt nach ihren Gusto zu konstruieren vermag. Heute gehört das Bild zu jenen Ikonen, die Kunstgeschichte geschrieben haben. Dabei kam seine Urheberin eigentlich von der abstrakten Malerei.
Florence Henri, 1893 als Tochter einer deutschen Mutter und eines französischen Vaters in New York geboren, verschlug es früh nach Europa, wo sie zunächst in Rom eine Ausbildung zur Konzertpianistin begann. Mitte der 20er Jahre pilgerte die ausgebildete Malerin von Paris zum Bauhaus nach Dessau, ließ nach dem Gastsemester den Pinsel fallen und verschrieb sich unter dem Einfluss der »Hausfotografin« Lucia Moholy der konstruktivistischen Ästhetik des Neuen Sehens. Zurück an der Seine möblierte die wohlhabende Erbin erstmal ihre Wohnung im Bauhaus-Stil um und gründete ein eigenes Fotostudio mit Spezialisierung auf Mode, Werbung und Porträt. In ihren Stadtansichten regierten fortan geometrische Muster, die ihren eigenen Gesetzen gehorchten. Und auch die rigoros komponierten Porträts von Prominenten der Kunst- und Intellektuellenszene favorisierten ungewohnte Perspektiven, extreme Nahaufnahmen oder Hell-Dunkel-Kontraste, als gelte es, den gesamten theoretischen Apparat des Bauhauses in die Praxis zu überführen. Noch in den 60ern wird der Maler Ernst Wilhelm Nay von ihrer Qualität schwärmen: »Florence Henri ist die einzige Fotografin, die jemals ein gutes Porträtfoto von mir gemacht hat, alle anderen haben es nicht geschafft«.
Kein Wunder also, dass Schülerinnen die Tür der etablierten Avantgardistin belagerten, darunter Gisèle Freund, deren Talent Henri aber nicht erkannte: »Sie werden nie eine gute Fotografin«, soll sie der späteren Legende mitgeteilt haben, »bei mir verschwenden Sie nur ihr Geld«.
Die Wienerin Lisette Model hatte bei ihrem Vorbild 1937 mehr Glück, auch wenn ihre Lehrzeit von kurzer Dauer war. Geboren als Elise Seybert in einer wohlhabenden jüdischen Familie, studierte sie zunächst Klavier bei Arnold Schönberg, der sie später zu der Feststellung inspirierte: »Um das 20. Jahrhundert zu zeigen, bedarf es eines modernen Nervensystems. Das bedeutet, mit beiden Beinen auf dem Boden dieser Zeit zu stehen.« Im Ersten Weltkrieg der Einkünfte aus dem Grundbesitz beraubt, entschied sich Models Mutter, inzwischen verwitwet, in ihre Heimat Frankreich zurückzukehren. Nach Jahren des Ausprobierens als Sängerin begann Lisette erst 1933 unter dem Eindruck der politischen Verhältnisse zu fotografieren. Der Beruf der Fotografin schien überall einsetzbar. Andere Immigranten, mit denen sie in Kontakt stand, etwa die ungarische Fotografin Rogi André, die erste Frau von André Kertész, machten es ihr vor.
Im Gegensatz zu Florence Henri war Model ein angestrengtes Durchkomponieren der Motive fremd. Sie zog die »Schnappschuss«-Ästhetik dem abstrakten visuellen Denken vor. In der Dunkelkammer verwandelte sie sich indes in eine sorgfältig den Ausschnitt des Negativs wählende Perfektionistin. Die technische Manipulation des Bildes stand für sie aber nicht an erster Stelle, sie war lediglich Teil des Herstellungsprozesses.
Bekanntheit erlangte Model mit ihren wenig schmeichelhaften Aufnahmen von wohlbeleibten Müßiggängern an der Promenade des Anglais in Nizza. Ihre Modelle sind weder Anhänger der angesagten athletischen Freikörperkultur, noch wirken sie anmutig. Träge lungern sie in ihren Sesseln, Vertreter einer privilegierten oberen Mittelschicht, die den Siegeszug des Faschismus und den Kollaps ihrer Welt zu verschlafen drohen. Die Serie erschien in der linken Zeitschrift Regards, weswegen sie lange als politisch motivierte Sozialreportage rezipiert wurde. Da war Model längst mit ihrem russischstämmigen Mann nach New York ausgewandert. In kürzester Zeit gelang es ihr hier, ihre Arbeiten zu veröffentlichen, für den Familienunterhalt zu sorgen und mit neuen Serien zu beginnen.
Sie interessierte sich für urbane Spiegelungen von Schaufenstern, eine Reverenz an ihre Lehrerin Florence Henri. Auch das hektische Geschehen knapp über dem Bordsteig hatte es ihr angetan, die vielen eilenden Beine, die sie zu Experimenten anregten. Die Stadt wurde ohnehin zu ihrem Jagdrevier. Sie gewährte ihr satirische Einblicke in Nachtclubs, Transvestiten-Bälle, Jazz-Keller, Hundeschauen, Wohltätigkeitsauktionen oder das Strandleben auf Coney Island. In diesem proletarisch angehauchten Mikrokosmos wählte sie nicht etwa grazile Badenixen aus, sondern eine kolossale Matrone, die sich, mit sich selbst zufrieden, den Wonnen der Brandung hingibt. Wenn diese eigenwilligen, psychologisch vielschichtigen, fast obszön offenen Arbeiten nicht den Weg ins Museum of Modern Art fanden, druckte sie das Magazin Harper’s Bazaar, das der unorthodoxen Straßenfotografin mitunter als Haupteinnahmequelle diente.
Auf die sich im Kalten Krieg häufenden Eingriffe des McCarthy-Apparats reagiert Model schließlich mit dem Rückzug ins Lehrfach. 1949 beginnt sie an der California School of Fine Arts in der von Ansel Adams eingerichteten Fotografieabteilung zu unterrichten. Zwei Jahre später gesellt sich die New School for Social Research dazu. Model verstand ihre Aufgabe darin, in die Philosophie der Kunst und des Lebens einzuführen, wozu auch Exkursionen nach draußen gehörten. »Fotografiere niemals etwas, was dich gleichgültig lässt«, gab sie von nun an ihren Studenten auf den Weg.
Die Berühmteste von ihnen ist zweifellos Diane Arbus. Sie hat sich den Rat sichtlich zu Herzen genommen. Schon ihre Lehrerin hatte ein Faible für Übertreibungen. Das Selbstporträt Amerikas aber, das Arbus vorschwebte, ging weit über die Vorliebe für sonderliche Details hinaus. Die aus einer wohlhabenden Familie stammende New Yorkerin begann bereits mit 18 Jahren ohne Umwege in anderen Disziplinen als Werbefotografin zu arbeiten. Mitte der 50er fand sie nach Lehrjahren in der Modebranche bei Lisette Model die Ermutigung, nach der sie bisher vergeblich gesucht hatte. Sie begann fern eines kommerziellen Verwertungszusammenhangs ihre persönliche Sicht auf den Menschen zu entwickeln. Nicht gleichgültig ließen sie vor allem Existenzen, die sich an der Grenze des gesellschaftlich Akzeptablen bewegten, die mit ihren Abweichungen von der verordneten Norm für eine Vielfalt sorgten, von der sich manche bis heute provoziert fühlen: Transvestiten, Prostituierte, psychisch Kranke, Zwillinge, Nudisten, Kleinwüchsige und Riesen, vom Weltschmerz geplagte Jugendliche, lebensüberdrüssige Alte.
Mit Sinn für kontroverse Zuspitzungen sezierte Arbus darüber hinaus auch die tragische Seite der vermeintlich Normalen, die sich hinter ostentativ gepflegten Masken mit ihren Widersprüchen herumplagten. Eine Elevin, die ihre Lektion des dokumentarischen Blicks geradezu bis zur Schmerzgrenze verinnerlicht hatte und auch unerbittlich in ihren wenigen Selbstporträts auf sich selbst anwendete. Nicht ohne Grund verglich Arbus bis zu ihrem Freitod im Jahr 1972 ihre Arbeit in den privaten Aufzeichnungen immer wieder mit der eines Schmetterlingssammlers.
»Arbus’ Fotos bieten Gelegenheit zu beweisen, dass man den Schrecken des Lebens ohne Zimperlichkeit ins Gesicht sehen kann«, schrieb Susan Sontag ein Jahr später aus Anlass der Retrospektive ihres Werks im Museum of Modern Art. Es war nicht als Kompliment gemeint, und das von einer Frau, die selbst oft genug dem privaten und öffentlichen Albtraum standgehalten hat.
»Henri – Model – Arbus. Menschenbilder«; Situation Kunst (für Max Imdahl) Bochum, bis 20. April 2014. Tel.: 0234/2988901. www.situation-kunst.de