TEXT: ANDREAS WILINK
Wenn man lange und genau genug hinschaut, findet sich in jedem Leben Lohnendes, um es mitzuteilen. »Im Bilde« zu sein, meint freilich nicht die Zurschaustellung des Privaten in der medialen Arena und auf dem Rummelplatz der Gefühle. Sondern Film als Gedächtnisarbeit im Dienst der Wahrheitsfindung, und sei sie noch so persönlich. »Gedächtnis ist der Sonnenuntergangsschatten der Wahrheit«, heißt es bei
Vladimir Nabokov. Der Jahrgang 2013 der Duisburger Filmwoche filtert scheinbar den Blick und verengt ihn. Filmemacher suchen sich selbst in ihrer Vorgeschichte. Tiefen und Untiefen öffnen sich. Glück und Unglück sind manchmal kaum voneinander zu trennen. Wenn die Recherche gelingt, wird sie mehr herausfinden, als Klarheit über die eigene Biografie.
»Meine kleine Familie« (Paul-Julien Robert) zeigt zu Beginn die inszenierte Privatheit von Mutter und Kind symbiotisch und in Harmonie. Die Kleinfamilie aber gab es nicht. Die Mutter lebt in der Kommune der Aktionsanalytischen Organisation (AAO) im Burgenland. Ein typisch theoriebewusstes 60-Jahre-Projekt. Proklamiert wird freie Sexualität, Gemeinschaftseigentum und Gewaltfreiheit, man betreibt Selbstbefreiung in der Performance, will partout die Auflösung bürgerlich fixierter Strukturen und radikale gesellschaftliche Veränderung, behauptet die Deformation durch die Zweierbeziehung und stellt sich in den Umkreis von Otto Mühls Wiener Aktionismus, der das Leben als Kunstwerk betrachtet und die Kinder wie Objekte behandelt. Von heute aus betrachtet ist das Ganze ein Graus, ein Verbrechen am schutzbefohlenen Individuum. Es zeigen sich Risse in der Oberfläche. Einer der Männer-Väter bringt sich um.
VATER, MUTTER, SOHN
Hierarchie, Autorität, Kontrolle formieren sich in dem System neu. »Draußen gab es Tschernobyl, Aids und Erwachsene, die Kinder schlagen«, beschreibt Robert sein damaliges Sicherheitsgefühl, das für ihn mit zwölf Jahren vorläufig endete. Er wird nach ein paar Jahren dorthin zurückkehren, die Mutter arbeitet in Zürich und verdient Geld für die Kommune; der Halbwüchsige »versteckt« sich in der Kindergruppe, wo man permanent kreativ zu sein und sich der Beurteilung der Großen und besonders Otto Mühls Nötigungen und sexuellem Zugriff auszusetzen hatte. Die Folge: Angst und totale »Anpassung«. Der 32-jährige Paul-Julien Robert hat das Experiment verkraftet und kann sich objektiv und ohne therapeutisches Bedürfnis dazu verhalten. Seine nüchterne Erinnerungs-Ermittlung, in die der Regisseur damaliges Filmmaterial einmontiert, ist auch ein Protokoll über den Verrat.
Rückkehr zu dem, was war und vor dem man geflüchtet ist: Elternhaus, Bezüge, das Unerlöste dieser Beziehung. »Vaters Garten« ist ein zärtlicher und befremdeter Blick auf die Erzeuger, die seit 62 Jahren verheiratet sind. »Zurückdenken. Da kommt so vieles nach oben«, sagt die Mutter über den Plan des Sohnes Peter Liechti zu dem Film. Sie sagt, es sei eine Dreiecks-Situation gewesen: Vater, Mutter und Sohn – »keine Harmonie«. Anständig, ordentlich, penibel, konservativ, ob im Garten, bei der Kleidung, in der Rollenverteilung von Mann und Frau, in allem – so ist der Vater. Die Mutter: fromm, fein, anpassungswillig und geduldig. Ein ganz normales Leben. Es handelt von der Unvereinbarkeit der Gewohnheiten, allmählicher Erschöpfung, dem Beharren, beieinander zu bleiben, trotz allem. Der Regie-Sohn lässt zwischendurch Puppen auftreten, mit denen er Theater macht und Eigenschaften herausstellt. So schafft er eine weitere bildnerisch erhellende Traumebene. »Die ersten 40 Jahre unseres Lebens liefern uns den Text, die folgenden 30 den Kommentar dazu«, schreibt Arthur Schopenhauer.
NEUE HEIMAT, DIE ALTE
Vollsperrung: Gehweiler wird von der Gegenwart abgeschnitten für ein Jahr. Die Dörfler werden zur Zustimmung für etwas bewegt, »was weit über ihren Ort Bedeutung hat«. Die neue »Heimat« wird gedreht. Es entsteht eine Welt im Kopf – und auf der Leinwand. Reitz castet, plant, doziert, dirigiert, leidet und ist beglückt, »pflanzt, gärtnert und erntet«, wie er sagt. Dann ist Jan Dieter Schneider als Hauptfigur Jakob Simon gesetzt. Der Darsteller muss zunächst Sprech-, Spiel- und Wahrnehmungsübungen machen, um Jakobs Eigenleben zu entwickeln. Auch in dieser Dokumentation – »Making of Heimat« (Anja Pohl, Jörg Adolph) von den Proben bis zum Schnitt – wie im fertigen Film ist sein Gesicht der eigentliche Blickfang. Dazu treten Reitz’ kluge Anmerkungen wie etwa: »Man erzählt eine Geschichte dreimal – beim Drehbuch-Schreiben, beim Drehen und beim Schnitt.« »Man braucht viel Geduld«, sagt Reitz einmal im Angesicht eines weißen Hirschs, der aus dem Unterholz tritt. Ein Moment, ähnlich dem in Stephen Frears’ »Queen«, als Elizabeth II. auf der Heide dem Zwölfender begegnet und ihn als Gleich zu Gleich erkennt. Schabbach, das ist auch für Reitz die Begegnung mit etwas Größerem als man selbst. Mit einem Naturereignis.
Vermutlich ist das, was Reitz mit »Heimat« meint, das Gegenteil von dem, was die Volksmusik darunter versteht. Duisburgs Eröffnungsfilm »Schlagerstar« (Marco Antoniazzi / Gregor Stadlober) ist das Porträt einer österreichischen Stimmungskanone mit Akkordeon in Bier-zelten, auf Kreuzfahrtschiffen, in Hinterstuben oder Riesenhallen, auf Weihnachtsmärkten und im TV-Studio. Marc Pircher ist Geschäftsmann, Handlungsreisender und PR-Manager in eigener Sache und das Image der Heiterkeit und Problemlosigkeit Schwerstarbeit. Auch für den Zuschauer.
»Schlaf ein, mein Kindelein«, singt es im Off des Vorspanns. Stille. Die Winter-Welt ruht aus. Der Mond steht überm Schnee, der einen zarten Vorhang webt. Aber wir sind nicht bei Edgar Reitz, sondern bei Thomas Heise und in der »Gegenwart« – und bald aus der Natur fort im Arbeitsprozess einer Fabrik, wo gereinigt, vermessen und gemauert wird, was das Zeug hält. Es könnte eine Kantine sein, ein Energiebetrieb oder eine x-beliebige Fertigungsanlage. Nach einer Viertelstunde sieht man einen aufgebockten Sarg; Feuer brennt gelb-rot. Eine Maschinerie der »Sterbekultur« – das ruft in Deutschland schlimme Erinnerungen auf. Das Rhein-Taunus-Krematorium funktioniert als Gefüge von Logistik, Verwaltung, Technik der Röhren, Apparaten, Schaltpläne und mit den angefahrenen Leichnamen in ihrer Holzhülle. Ein Schild verlangt »Bitte Ruhe Trauerfeier«, ein anderes informiert über Vorkehrungen bei »Auslaufprodukten von Särgen«. Die Fachsprache kennt keine Pietät. Sonst geht alles seinen Gang. Am Ende tanzen Funkenmariechen den Atem des Todes fort.
WIE EINE BACH-KANTATE
Noch eine »Andere Welt« (»Schlüsselfrauen«), dokumentiert von Christa Pfafferott. Eine geschlossene Anstalt für Frauen, die gefährlich für die Allgemeinheit oder für sich selbst sind: Flure, Riegel, Gitter, Überwachungskameras, der totale Freiheitsentzug mit Kriseninterventionsraum und Fixierung bei Gewalttätigkeit. Die Ohnmacht der Patientinnen und die Macht des Pflegepersonals, der Zwang und seine legitime Ausübung gemäß der Gesetzgebung geraten in der Forensischen Psychiatrie unausweichlich aneinander. Es gibt Fragen, aber keine Antworten auf einen Zustand, dessen lähmend quälender Vakuumverschluss genau getroffen ist.
Ein Team, das auch Münchens Museum Brandhorst verantwortet hat, arbeitet an mehreren Projekten in Frankreich, Potsdam, Italien. Man steht im Wettbewerb oder ist in der Bauphase, stellt Überlegungen an zu Optik, Form und Struktur, Raum- und Landschaftsbezügen, Farbabstimmung, Möbel-Design. Harun Farocki folgt in »Sauerbruch Hutton Architekten« seiner Kommentar-freien Methode, mit der er die Phasen der Entwicklung, Arbeit am Modell und die Realisierung als stiller Beobachter begleitet. Wenn man diesen und den folgenden Film hintereinander sieht, erscheinen die hochzivilisierte und konzentrierte Professionalität bedeutungslos und nahezu blasphemisch gegenüber dem Kreatürlichen der Schöpfung. In »Panihida« steht das Ephemere der Körper gegen das Unsterbliche der Seele. In einem moldawischen Dorf ist Großmutter Ileana gestorben. Sie hinterlässt Sohn und Enkelin, deren Gesichter – verwittert das eine, jugendfrisch das jüngere – uns in langen Einstellungen anblicken. Die Bewohner trauern und verabschieden sich mit Klageritualen, einer Totenwache in einer schlimmen Unwetter-Nacht und der morgendlichen Prozession des Sarges zum Friedhof. Die Schönheit der unberührten Landschaft und das fröhliche Einverständnis mit dem Leben unter dem Gesetz des Irdischen gleicht dem Geist einer Bach-Kantate.
Die Widmung »Allem, was aus der Vergangenheit nicht gefördert werden kann« steht über »Sieniawka« und überwölbt nahezu den gesamten Duisburg-Jahrgang. Marcin Malaszczak vertritt das Gegenprogramm zu den realistisch aufgehellten Befragungen: ein dunkler, betrübter Bild-Essay. Wir befinden uns im öden Grenzgebiet von Deutschland, Polen und Tschechien. Berlin ist nicht weit, aber Zeitalter entfernt. Hat der Planet der Affen hier einen Satelliten? Durch die Zone irrt ein Kosmonaut und untersucht die vergewaltigte, verseuchte Erde. Tote in Säcken werden im Geröll vergraben. Alte Männer sind letzte Lebens-Zeugen einer freien Außenwelt, während andere als Insassen einer psychiatrischen Anstalt den inneren Kreis bewohnen und wie unter Verschluss gehalten sind. Alles ist liquidiert und verloren im Zeitlosen. Zwischendurch kommt die Sonne durch und malt – überbelichtet – einen Birkenwald aus. Gibt es noch Hoffnung, oder ist die ÜberschwemmungsKatastrophe am Ende gar die neue Sintflut?
4. bis 10. November 2013; Filmforum am Dellplatz; www.duisburger-filmwoche.de