TEXT: GUIDO FISCHER
Eine Geschichte erzählt Wayne Shorter immer wieder gern. Es ist die vom Saxofon-Halbgott Charlie Parker, der einmal einen jungen Kollegen gequält habe. »Muss ich diese ganzen Skalen wirklich lernen?«, soll sein Student aufgestöhnt haben. Worauf Parker meinte: »Natürlich. Und wenn Du sie kannst, vergiss sie sofort wieder.« Für Shorter spiegelt die pädagogische Maßnahme und Einsicht den eigentlichen Wesenszug von Jazz wider.
Erst wenn sämtliche Kniffe und Lektionen von Musik sich im Geist und auch in den Muskeln abgelagert haben, erlangt man die völlige Freiheit, um neue Wege zu gehen. Dann ist alles möglich. Dieses ungeschriebene Gesetz verkörpert der jüngst 80 Jahre alt gewordene Shorter seit über einem halben Jahrhundert lehrbuchreif.
Zunächst am Tenor- und später auch am Sopransaxofon hat er Unbekanntes erschlossen und dabei intuitiv aus dem Vollen der Tradition geschöpft. In sein bis zum Zerreißen gespanntes Spiel kann er unerwartet jene fließende Eleganz einweben, die er seit seinem 18. Lebensjahr abgespeichert hat, als er sein großes Vorbild Charlie Parker erstmals im New Yorker Birdland gehört hatte. Die hektische Rasanz, die in abstrakten Free-Jazz-Tumult umzuschlagen droht, entschärft Shorter plötzlich mit lateinamerikanischen Rhythmen. Selbst in seinen lichterloh brennenden Skalen schwingt untrügliches Gespür fürs Melancholisch-Poetische mit.
Mit all dem hat Shorter Jazzgeschichte geschrieben, obwohl er nie als Frontmann das Scheinwerferlicht suchte, sondern sich ausschließlich als Teamplayer verstand. Schon auf seiner ersten wichtigen Station, bei Art Blakey’s Jazz Messengers, machte der in Newark / New Jersey geborene Shorter schnell von sich reden. So holte ihn Miles Davis 1964 in sein mit Herbie Hancock, Ron Carter und Tony Williams hochkarätig besetztes Quintett. Wie der als Egomane verschriene Trompeter Davis in seiner Autobiografie gestand, wurde Shorter gleich zum heimlichen Kopf der Band, ihrem »musikalischen Katalysator«. In dieser Zeit sind zahllose Alben entstanden, die zum Tollkühnsten und Aufregendsten gehören, was der Modern Jazz zu bieten hat. Shorter komponierte dafür Stücke wie »Footprints«, »Dolores« und »Nefertiti«, die zum Standardrepertoire gehören.
Nicht nur im akustischen Jazz hinterlässt Shorter Spuren, sondern ebenfalls im elektrifizierten Jazzrock. So war er maßgeblicher Motor bei den Miles Davis-Alben »In a Silent Way« und »Bitches Brew«. Mit Keyboarder Joe Zawinul gründete er 1970 die auch kommerziell enorm erfolgreiche Fusion-Band »Weather Report«, die es bis 1986 gab. Bereits seit 2001 besteht auch schon in unveränderter Besetzung Shorters Quartett, mit dem er zwei Auftritte in NRW absolviert und so seinen 80. Geburtstag nachfeiert.
Mit Pianist Danilo Pérez, Bassist John Patitucci und Schlagzeuger Brian Blade schart er drei namhafte Könner ihres Fachs um sich. In der Chefrolle sieht sich Shorter weiterhin nicht. Er begreift Jazz als gelebte Demokratie. So stammen zwar die meisten Stücke auf der jüngsten Live-Aufnahme »Without a Net« allesamt aus seiner Feder. Im CD-Titel ist bereits die Richtung dieser Glorreichen Vier abgesteckt. Aus einer Melodie-Initiale entwickeln sie telepathische Kräfte und Zwiegespräche, bei denen alle Freiheiten und Gedanken erlaubt sind. Dazu gehören zwischendurch Geistesblitze aus Shorters Vergangenheit – den visionären Hardbop- und Jazzrock-Zeiten.
Wayne Shorter Quartet, 8. November 2013 Philharmonie Essen. 9. November Philharmonie Köln. http://www.philharmonie-essen.de + http://en.koelner-philharmonie.de