TEXT: REGINE MÜLLER
Ein großer Wurf ist Dietrich Hilsdorf gelungen: 32 Jahre nach seinem Debüt als Opernregisseur am Gelsenkirchener MIR mit Tschaikowskys »Eugen Onegin« nahm er sich der »lyrischen Szenen in drei Akten« erneut an und komponierte ein subtiles Kammerspiel, das in seiner Dichte und psychologischen Tiefe so nur selten zu erleben ist. Ohne umständliches Meta-Konzept, nur zart aktualisiert (Renate Schmitzers gewohnt geschmackvolle Kostüme changieren zwischen frühem und mittlerem 20. Jahrhundert), besticht die Aufführung durch feinste Zwischentöne und filigrane Gesten des famosen Ensembles: Jede Alltagsbewegung scheint zufällig aus der Situation zu wachsen.
Dieter Richter schuf für die wechselnden Orte der traurig verpassten Liebe zwischen der empfindsamen Tatjana und dem Lebemann Onegin nach Puschkins Versroman einen hellgrün grundierten, mit Jugendstil-Ornamenten bemalten Raum, der sich mittels mobiler Zwischenwand vom ländlichen Salon zum Petersburger Ballsaal weitet und die problematische Akustik im ehemaligen Musicaltheater der Kölner Oper am Dom signifikant verbessert. Auch das Duell findet in dem zugleich lichten wie bedrückenden Raum statt: Lenskij verweigert seinen Schuss; Onegin, ebenso unwillig gegenüber dem sinnlosen Ehren-Ritus, ringt kurz mit sich, dreht dann Lenskij den Rücken zu, schießt, wie einer spontanen Eingebung folgend blind ins vermeintlich Leere – und trifft doch den Freund tödlich.
So entwickeln sich hier die Tragödien: aus Launen des Zufalls, der berühmten russischen Langeweile heraus. Und aus den Tiefen der russischen Literatur. Die Tatjana ist ein schmales, bleiches Geschöpf mit dicken Wollstrümpfen an den Beinchen, die sie kindlich einwärts dreht, wenn sie nicht träumend ins Weite blickt. Olesya Golovneva scheint durch jedes Wort zu erbeben und unter jedem Blick zu erschauern. Die falschen Paare finden sich: Die leichtfertige Olga (glutvoll: Adriana Bastidas Gamboa) und der idealistisch emphatische Lenskij (mit grandiosem Mozart-Schmelz: Matthias Klink). Die verträumte Tatjana und der abgebrühte Onegin (Andrei Bondarenko mit makellos balsamischem Bariton).
Das restliche Personal lebt in erstarrten Ritualen ein liebloses Leben, wie Anna Maria Dur als verbitterte Njanja oder die grandiose Dalia Schaechter als früh versteinerte Larina. Hilsdorf übertrifft sich in Sachen Timing und Durchdringung der Partitur selbst. Mit Marc Piollet am Pult des bestens aufgelegten Gürzenich-Orchesters hat er bereits mehrfach in Wiesbaden gearbeitet. Die Harmonie ist deutlich spürbar. Piollet dirigiert einen schlanken Tschaikowsky, lässt sich bisweilen viel Zeit, zieht aber in der pompösen Ballszene die Zügel kräftig an.