TEXT: SARAH HEPPEKAUSEN
»Was interessant ist an Jerusalem, mindestens so interessant wie die Architektur, ist die menschliche Landschaft«, meint Rabbi Daniël Epstein. Sein Kopf ist auf einem kleinen Bildschirm zu sehen, während auf der großen Breitleinwand ein stillgelegtes Jerusalem bei Nacht leuchtet. Er ist einer der Interviewten im neuen Theater-Film-Projekt der beiden Antwerpener Künstler Bart Baele und Yves Degryse. Und das, was der Rabbi über Jerusalem sagt, passt als Beschreibung auch gut zur Arbeit der beiden Belgier.
Städte haben es ihnen angetan. Nach einer haben sie sich sogar benannt: Berlin. Baele und Degryse wollen sich partout keinem Genre unterordnen lassen, aber ihre bisherigen Städteporträts lassen sich als inszenierte Filmdokumentationen umschreiben. Oder auch als Video-Performances, mal mit eigens komponierter Live-Musik, immer mit mehreren Bildschirmen. Die doppelte Basis ihrer Arbeit: das Bild und das Interview. Das Textmaterial für Berlins Filme, sozusagen das Drehbuch, liefern immer die Menschen, die vor Ort leben. Es sind die befragten Bewohner, die ihrer Stadt eine Sprache geben. Baele und Degryse zeigen die Stadt als menschliche Landschaft. Vielgesichtig, aber persönlich. In der 360-Grad-Perspektive, aber subjektiv.
Die bisherigen Stationen ihrer Städte-Reihe »Holocene«: Iqaluit, die Hauptstadt der Inuit-Region Nunavut in Nordkanada; Bonanza, eine ehemalige Bergbaustadt in den Rocky Mountains, die heute nur noch sieben Einwohner zählt; die russische Metropole Moskau. Und eben Jerusalem. Mit der Stadt der drei Religionen begann 2003 ihr filmtheatrales Porträt-Projekt. Zehn Jahre später sind Baele und Degryse noch einmal nach Israel gereist. Mit dem neuen Blick auf alte Probleme. »Wesentlich hat sich wenig verändert, es ist fast dieselbe Situation wie damals«, sagt Bart Baele. Er meint den Konflikt zwischen Palästinensern und Israel. Im Video kommen beide Seiten zu Wort.
Und jede Position hat ihren Bildschirm. Baele und Degryse haben zum Teil dieselben Menschen interviewt wie vor zehn Jahren. Den Rabbi Mike Swirsky und den palästinensischen Studenten Munir Nusseibeh zum Beispiel. Die diskutierten 2003 noch hitzig an einem Tisch. Jetzt reagieren sie separat aufeinander und auf den ersten Jerusalem-Film, Swirsky stoppt sogar das Video, das auf der großen, dreigeteilten Leinwand läuft. Bildschirme übernehmen bei Berlin immer auch die Funktion einer Figur, sie sind Stimmungsmacher, treiben oder halten die Handlung an, verweisen und kommentieren. Ihrerseits live kommentiert von vier Musikern, die auf Oud und Saz eine neue Komposition von Peter Van Laerhoven spielen.
In »Tagfish«, das Berlin 2010 beim Festival »Theater der Welt« im Ruhrgebiet uraufführte, wurde aus den Videogesprächen eine fiktive Verhandlung. Sieben Leinwände saßen da um einen Tisch, Essener Planungsdezernenten, Architekten und Journalisten debattierten über die geplante Designstadt auf Zollverein und einen investitionswilligen Scheich. Es war die filmische Montage eines Round-Table-Talks, der so nie stattgefunden hat, raffiniert, informativ und witzig. Aus der Doku-fiktion wurde dann eine vorausschauende Realsatire: Im vergangenen Jahr machte sich der Scheich dünne.
»Die Realität ist stärker als jede Fiktion«, hat Yves Degryse mal in einem Interview gesagt. Heute ist er da zurückhaltender, will Realität und Fiktion gar nicht mehr als Gegensatzpaar verstanden wissen. Für die kommenden Projekte kündigen die beiden 36-Jährigen einen stärkeren Mix aus beiden an. Für »Jerusalem« reicht noch die in Szene gesetzte Wirklichkeit. Aber auch die ist eine subjektiv bildgesteuerte.
»Jerusalem (Holocene #1.2)«, 8. und 9. November 2013, PACT Zollverein, Essen. www.pact-zollverein.de