TEXT: ANDREAS WILINK
»Bonjour Tristesse« nach Françoise Sagan und Buñuels »Belle de Jour« sind die Referenzfilme für François Ozons Chronik der Gefühle einer Tochter aus guter Familie und wohlerzogenen Pariserin. Der Leerraum der zwar liebenswürdigen, wenngleich in ihrer Gleichgültigkeit »herzkranken« bürgerlichen Klasse fordert zur Ausflucht in eine erotische Gegenwelt heraus.
Wir begleiten Isabelle, 17 Jahre alt, durch vier Jahreszeiten bis zum offiziellen Datum ihrer Reife. Sie ist eine Schwester der ebenso »jungen & schönen« Julie (Ludivine Seigner) in Ozons Gefühls-Thriller »Swimmingpool«. Wie dort gibt es eine ältere Frau (beide Male: Charlotte Rampling), die mütterlich, freundschaftlich, eifersüchtig und neidvoll, mit der Jüngeren – als Rivalin, aber konkurrenzlos – in Dialog tritt. Hier ist sie nahezu ein Phantom: Witwe eines der Freier, mit denen Isabelle Sex hatte. Im Internet sucht sie sich Partner für 300 Euro pro Stunde, gibt vor, 20 zu sein und Studentin an der Sorbonne. Dabei geht sie noch zur Schule. Zuhause ahnt man nichts, erst als die Polizei auftaucht und Isabelle befragt, nachdem einer ihrer Kunden (Ehemann der Rampling-Figur) während des Geschlechtsakts an Herzversagen starb und im Hotelzimmer gefunden wurde, das Isabelle panisch verließ.
HARTE LUST UND KALTE EROTIK
Das Auge des Voyeurs ist stets die Perspektive des distanzbewussten Regisseurs Ozons: In der ersten Einstellung schauen wir durch ein Fernglas auf Isabelle (bezaubernd und selbstbewusst: Marine Vacth) am sommerlichen Strand. Mit dem deutschen Urlaubs-Flirt Felix inszeniert sie planvoll den Verlust ihrer Unschuld, um ihn dann kalt abzuservieren, und beobachtet sich dabei selbst wie eine Fremde: Ozon stellt in dem Moment konkret eine zweite Isabelle neben sie. Zurück in Paris, beginnt sie mit der Prostitution. Weshalb? Aus Abenteuerlust am Verbotenen, aus Experimentierlust, sich in eine aufreizende Lolita-»Léa«-Figur zu verwandeln, aus dem Reiz des Unverbindlichen, aus Machtkitzel. Weniger Provokation als Spiel.
Die Männer sind älter, aber deshalb doch nicht Vaterersatz, obschon Isabelles geschiedene Mutter der Familie mit Isabelle und ihrem jüngeren Bruder und Vertrauten Victor einen Stiefvater zugeführt hat. Auch bei ihm testet Isabelle ihre Verführungs-Möglichkeiten wie auch bei einem verliebten Klassenkameraden. Aber eine soziale Beziehung interessiert sie nicht. Harte Lust und kalte Erotik sind die Gegenmittel zu ihrer unergründlichen und namenlosen Suche nach sich selbst und Rolle in einer scheinbar für sie sorglosen, ihrer Attraktivität und Selbstbestimmtheit offen stehende Welt. Einer Welt, die aufgeladen ist mit sexuellen Botschaften.
Ozon begleitet wie ein Feldforscher (oder auch wie sein älterer Kollege Eric Rohmer) Sommer, Herbst, Winter und Frühling Isabelles jeweils mit einem Chanson von Françoise Hardy, melancholischen Sehnsuchtsliedern, die den komplizierten emotionalen Zustand Isabelles kommentieren und konterkarieren. Vielleicht kommt Ozon mit diesem amoralischen Film dem soeben viel zu jung gestorbenen Großmeister Patrice Chéreau und dessen »Intimicy«-Film besonders nahe.
»Jung & Schön«; Regie: François Ozon; Darsteller: Marine Vacth, Géraldine Pailhas, Frédéric Pierrot, Charlotte Rampling, Johan Leysen, Fantin Ravat; 2013; 94 Min.; Start: 14. November 2012.