TEXT: STEFANIE STADEL
Der Blick schweift gelassen in die Ferne. Von dunkler Kontur umfangen wirkt das volle, weiße Haar fast strahlend. Man Ray war fasziniert von der Physiognomie des Kollegen. Wieder und wieder nahm er Max Ernst ins Visier seiner Kamera. Mit den hellen Augen und der dünnen, schnabelartigen Nase erinnere Max Ernst ihn an einen Vogel – »einen Raubvogel«, wie Man Ray bemerkte.
In jenem Abzug von 1934 begnügt sich der US-Künstler und Fotograf allerdings nicht mit dem eindrucksvollen Abbild. Zur Steigerung des Ausdrucks kommen bei Man Ray immer wieder Verfremdungsmomente ins Spiel. Diesmal heißt das Zauberwort »Solarisation«: Durch die Überbelichtung beim Entwickeln bringt sie jene charakteristischen Umrisslinien ins Bild und gibt dem Porträtierten damit etwas Würdevolles, irgendwie Magisches.
Vor allem den Bildnissen von guten Freunden, Gleichgesinnten, Mitstreitern verlieh Man Ray durch den Dreh in der Dunkelkammer jene geheimnisvolle Note. Zu dem ausgesuchten Kreis zählte selbstverständlich auch Max Ernst. Denn man stand sich nahe: »Wir trafen uns oft«, so Man Ray, »manchmal in kritischen Lebenslagen – und waren einander behilflich«.
BRETON GEISTERHAFT, COCTEAU VERTRÄUMT
Das Max Ernst-Museum in Brühl frischt nun die alte Künstler-Freundschaft auf, holt sich dazu Man Ray ins Haus. Mit vielen seiner altbekannten, aber auch einigen selten gesehenen Fotoarbeiten aus der langen Zeit, die der Künstler in Paris verbrachte. Insgesamt kommen rund 150 Aufnahmen zusammen – viele Aktfotos seiner wechselnden Geliebten, Stillleben-Fotogramme und natürlich Porträts. Darunter auch jenes »solarisierte«, das Max Ernst beinahe ins Übernatürliche abheben lässt.
Neben dem Dada-Pionier aus Brühl erkennt man in den mehr oder weniger entrückten Bildnissen der Ausstellung etliche Größen wieder: Pablo Picasso mit kritischer Miene, André Breton geisterhaft vor einem Gemälde von Giorgio de Chirico lagernd, Jean Cocteau wie er verträumt durch einen Bilderrahmen schaut, den er sich selbst vors Gesicht hält – vielleicht ein Hinweis auf seine Vorliebe für die Selbststilisierung. Und natürlich die nackte Meret Oppenheim, gleichsam als lebender Druckstock in Szene gesetzt: Man Ray lässt die damals gerademal 20-Jährige am großen Rad einer Druckerpresse posieren. In sinnlicher Selbstversunkenheit hat sie den bereits reichlich mit Druckerschwärze beschmierten Arm theatralisch zur Stirn geführt. Ein wunderbarer Beleg für den surrealistischen Hang zum Skandal.
Wie all die anderen kreativen Zeitgenossen – Maler, Bildhauer, Musiker, Dichter – tummelten sich Man Ray und auch Max Ernst während der 1920er und 30er Jahre in der französischen Kunstmetropole. Gemeinsam gingen die Surrealisten dem Traumhaften, Übernatürlichen, Unbewussten nach – man wollte der Wirklichkeit weitere Dimensionen erschließen. Max Ernst versuchte es in Gemälden, Grafiken, Skulpturen. Man Ray vor allem mit Fotos – zunächst wohl notgedrungen. Denn bevor er 1921 von New York an die Seine gewechselt war, hatte der damals 31-Jährige das Fotografieren eher als Nebensache betrachtet und betrieben. Gemeinsam mit Marcel Duchamp unternahm Man Ray seinerzeit das ein oder andere fotografische Abenteuer, doch eigentlich diente der Apparat ihm zunächst in erster Linie dazu, eigene Gemälde oder Objekte abzulichten.
ARBEIT MIT LICHT STATT MIT DEM PINSEL
Erst die ernüchternden Erfahrungen auf dem Pariser Kunstmarkt brachten den Maler und Objektkünstler dazu, aufs Fotografieren umzuschwenken. Versprach das neue Medium doch größeren kommerziellen Erfolg. »Meine ganze Aufmerksamkeit richtete ich jetzt darauf, mich als Berufsfotograf zu etablieren…« Man Ray bringt es auf den Punkt: »Ich wollte Geld verdienen – nicht länger auf eine Anerkennung warten, die sich vielleicht nie einstellen würde.«
Es funktionierte besser als erwartet. Und so konnte Man Ray schon bald verkünden, dass er sich vom »klebrigen Medium der Farbe« gelöst habe. Dass er künftig mit Licht arbeite, das genauso geschmeidig sei wie der Pinsel. Man Ray machte Geld mit Auftragsarbeiten, nahm sich daneben aber immer reichlich Zeit für Experimente. Er wusste, wie man werblichen Ansprüchen gerecht wird, genoss es aber offenkundig auch, sich frei zu machen von solchen Zwängen. Gekonnt wechselte er zwischen konventionellen und unkonventionellen Darstellungsweisen, wobei sich die Übergänge zuweilen durchaus fließend darstellten.
Der Künstler selbst unterschied »weniger esoterische Werke« auf der einen Seite und auf der anderen »eher schöpferische Produktionen«, für die er sich mehr Anerkennung erhoffte – »die gleiche Achtung, die man einem Kunstwerk, einem Gemälde oder einer Zeichnung, entgegenbringt«. Ein ziemlich fortschrittliches Ansinnen – wird sich die Fotografie doch erst viele Jahrzehnte später als künstlerisches Medium etablieren können. Dass ihr diese Wertschätzung freilich schon bei Man Ray gebührt hätte, beweist der Blick auf die Bilder in Brühl.
Man begegnet kunstvollen und zuweilen überaus hintergründigen Inszenierungen. Und daneben Arbeiten, in denen Man Ray immer wieder dem Zufall das Feld überlässt, wenn es darum geht, die Fotografie von der dokumentarischen Schiene zu holen, ihr neue, künstlerische Qualitäten abzugewinnen. Dazu zählt auch besagte »Solarisation«, die Man Ray dank eines »Dunkelkammerunfalls« für sich entdeckte. Seine Geliebte, Lee Miller, hatte versehentlich das Licht eingeschaltet, während in den Entwicklerschalen Negative eines Akts vor dunklem Hintergrund lagen.
FOTOGRAFIEREN OHNE KAMERA
Einem weiteren Zufallsfund aus Pariser Tagen gab Man Ray den Namen »Rayografie«. Es war zu Beginn des Jahres 1922, und der Künstler fertigte gerade Abzüge für den Modeschöpfer Paul Poiret, als ihm ein unbelichtetes Blatt Fotopapier zwischen die belichteten in die Entwicklerwanne geriet. Später legte er ohne Absicht Glastrichter, Messbecher, Thermometer dazu, schaltete das Licht an und sah, wie sich auf dem Papier ein Bild abzeichnete. Begeistert von der Entdeckung, griff Ray sodann alles, was ihm unterkam – Schlüssel, Taschentuch, Stifte, Pinsel, Kerze, Bind-faden … – und wiederholte den Vorgang. Die Schau zeigt vielfältige Ergebnisse solch fotografischer Versuche ohne Kamera.
Auch Man Rays berühmtes Bildnis der Marquise Casati entspringt einer glücklichen Fügung – diesmal war es eine durchgebrannte Sicherung. Weil keine Lampe mehr funktionierte, musste der Künstler mit Tageslicht und langen Belichtungszeiten arbeiten. Sie waren schuld daran, dass sich auf einem der Fotos drei Augenpaare im Gesicht der Adeligen abzeichneten. »Man hätte es für eine surrealistische Version der Medusa halten können«, gesteht der Künstler. Doch gerade dieses Bild entzückte Casati und zog in der Folge jede Menge Neukunden in Man Rays Pariser Studio.
Durch solche gewollten oder ungewollten Verfremdungseffekte gelingt es dem Künstler immer wieder, der Realität zu entkommen. Ganz im Sinne des Surrealismus und seiner Fotografie, der es niemals darum geht, die Welt nur anders abzubilden. Vielmehr legt sie es darauf an, durch den spielerischen Umgang mit dem Medium, durch Störungen, Experimente, Zufälle Vorstellungsbilder hervorzubringen – vorbildlose Fotografien zu schaffen. Denn es gibt, wie der surrealistische Dichter Paul Éluard erkannte, »kein Vorbild für den, der sucht, was er nie gesehen hat«.
Bis 8. Dezember 2013; Max Ernst Museum, Brühl; Tel.: 02234/9921555. www.maxernstmuseum.lvr.de