TEXT: ANDREAS WILINK
»Peymann (aus dem dunklen Zuschauerraum brüllend): ›Hau bloß ab, du feige Sau! Haußmann (über die Bühne zum Bühnenausgang eilend): ›Leck mich am Arsch, du blöder Idiot.‹«
Trennungsszenen, die ein Wiedersehen vorsehen, enden gewöhnlich anders. Aber wir sind am Theater, wo das Drama nicht bei den Dichterworten aufhört, die Zeremonie der Übertreibung herrscht, die Egos groß sind, Zunge und Colt locker sitzen und das Leben auf Probe den meisten anderen Seins-Möglichkeiten vorzuziehen ist. Leander Haußmann arbeitet wieder am Berliner Ensemble, wo das Dialog-Geschimpfe stattfand und sich bezog auf den Schiffbruch, den er dort mit Shakespeares »Sturm« erlitt. »Ein Desaster, ein Weltuntergang«, schreibt er in seinem Buch. Es heißt »Buh«, obwohl es auch »Bravo« hätte heißen können, nimmt man alles zusammen und legt es auf die Waage. Das würde dann der Titel des zweiten Teils und beide zusammen kämen in den Schuber, frotzelt er. »Abhängigkeit von Lob darf man nicht zulassen. Und Erfolge sind nicht so komisch wie Niederlagen. Ich habe darauf geachtet, dass ich selbst schlecht wegkomme und nicht die anderen.«
Denn was sind schon vier Einladungen zum Berliner Theatertreffen gegen Flops und Verrisse. Oder gegen die Panik, dass man ihm eines Tages »draufkommt«. Worauf? Darauf, dass der Regisseur in des Kaisers neuen Kleidern steckt. Den Begriff »Marktwertschaden«, den er verursacht habe, setzt er im Buch kursiv.
»Nehmt nur mein Leben hin in Bausch und Bogen wie ich’s führe. Andere verschlafen ihren Rausch, meiner steht auf dem Papiere«, reimt Goethe. Von Räuschen weiß Haußmann viel und gerät im Reden darüber in einen »Gesprächsrausch«. Sie stehen nicht nur auf den 272 Seiten von »Buh«, sondern dem 54-Jährigen auch ins Gesicht geschrieben. Man denkt an Tschechows »Drei Schwestern«, die er an der Wiener Burg inszeniert hat. Darin sagt Mascha zu Werschinin: »Oh, wie alt Sie geworden sind!« Sagt es unter Tränen und wiederholt es noch einmal.
NOCH IMMER VIEL ZEIT
Der Antrieb von »Buh«, sagt Haußmann, sei »Trauer« gewesen. Und die eigenen Ängste. Hat der Prinz vielleicht doch nicht das Königreich geerbt? Alt-Werden. Erwachsen-Werden. Den Tod des Vaters verkraften. Alles Antriebe – und nun auch noch und gerade jetzt »Hamlet«.
Wir sitzen in der Kantine des BE am Schiffbauerdamm. Leander Haußmann hat viel Zeit, weil er bis zur Abendprobe ohnehin ein paar Stunden überbrücken muss. Außerdem ist er in »Vortragslaune«, woran drei Grappas mitwirken. Er doziert mit Furor, Emphase, Leidenschaft und meistens ziemlich ernsthaft. Die Haare sind – »entschlossen, mein Alt-Hippietum aufzugeben« – sehr kurz, der Bart stoppelt. Viel besser als die flusige Mähne. Haußmann, der auf der Bühne verzaubern, hoch emotional und bildbesoffen sein kann, bereitet das Drama des begabten Kindes vor. Hamlet, beinahe ein anderer Peter Pan? Oder was? Der Däne ist für ihn »Moralist unter Psychopathen, der sich selbst psychopathische Eigenschaften aneignen und seine Empathie ablegen muss«. Das sei das Tragische. Hamlet mutiert zum »klassischen Amokläufer«.
Haußmann war ein Heros der Heiterkeit, der schönste Theatermacher der untergegangenen DDR (Eigeneinschätzung: »langes, volles Haar, prächtige Nase, schlaksig und laut«) und jüngste Hoffnung des gesamtdeutschen Theaters, seit seinem Weimarer »Sommernachtstraum« 1992 und der Münchner »Romeo und Julia«-Inszenierung 1993. Arrogant, anarchisch, lässig und sehr Rock’n’Roll. »Die Leckt-mich-am-Arsch-Haltung«, sagt er nun, »kann man nur haben, wenn man jung ist.«
NARZISS MIT KRÄNKUNGEN
Bei einem Narziss, der immer geliebt werden will, bleiben Kränkungen nicht aus. Die erste: Leander wurde nicht in Berlin geboren, sondern in Quedlinburg. Gegen Pfeil’ und Schleudern des wütenden Geschicks muss man sich wappnen. Also sagt er: »Ich will gekränkt werden, damit ich wieder kränken kann. Ich war immer extrem autonom – wie John Wayne. So sehe ich mich gern. Ich kann auch ganz gut reiten und mit Waffen umgehen.«
Sechs Jahre nach der Wende und mit 36 war der Ost-Cowboy Intendant des Schauspielhauses Bochum, dem Shakespeare-Theater von Zadek, Peymann und Steckel, zu einer Zeit, da »das Bergarbeitertum schon folkloristisch« geworden sei und das Publikum mit »ein paar Gammlern« klar kommen musste, wie er rückblickend feststellt. Mit dem brennenden Herzen als Signet und dem Slogan »Viel Spaß« starteten er und seine Sportsfreunde Dimiter Gotscheff und Jürgen Kruse. Das Etikett vom Spaßtheater sollte an ihm kleben bleiben, obwohl es für Bochum nie stimmte. Höchstens stimmungsmäßig. Bochum hatte damals ein tolles Ensemble mit schönen Frauen wie Anne Tismer und Judith Rosmair und mit schönen Männern und Jungs wie Wolfram Koch und Andreas Pietschmann. Bochum war sexy, und wenn es nach Haußmann gegangen wäre, hätte es ums Haus an der Königsallee herum eine drogenfreie (soll heißen: Drogen frei) Zone gegeben.
Bochum kommt in »Buh« mit seinen 44 Kapiteln erstmals auf Seite 149 vor. Mit einer Niederlage: Haußmanns verkorkstem Besuch beim Dramatiker Edward Bond in England und seiner zähen Uraufführungs-Inszenierung von dessen »Verbrechen des 21. Jahrhunderts« mit dem »Textgeschwitze«, wie Margit Carstensen es nannte. Noch falle es ihm schwer, sich an Bochum zu erinnern, und er gebe sich auch keine Mühe. Die Zeit dafür sei noch nicht reif.
HÖHERE FORM DER EITELKEIT
Es ist sympathisch, eine höhere Form der Eitelkeit oder beides zusammen, dass »Buh« mehr vom Scheitern (wie dem Münchner »Fledermaus«-Absturz) erzählt. Und zwar so, dass einem mit dem dazu passenden Untertitel »Mein Weg zu Reichtum, Schönheit und Glück« gleich eine Haußmann-Kinokomödie zwischen Sonnenallee und Müggelsee vor Augen steht. Und ein Buddy-Movie: »Crazy«-Ost. Die Kumpel Uwe Dag Berlin und Steffen Schult sind früh seine Lebensmenschen – und dann auch in Bochum mit dabei.
Haußmann springt mit seiner Biografie nur so um und schneidet Erinnerungs-Sequenzen von vorn nach hinten und zurück, wie ein wilder Experimentalfilmer, der der Lubitsch-Preisträger nun beileibe nicht ist. Erzählen kann er. »Ich ziehe Erlebnisse an – ich fahre auch nicht Auto, sondern Straßenbahn oder S-Bahn – und tue Dinge, die Chaos auslösen.« Das Buch hat einen Sound und eine zarte Poesie; es verplempert sich nicht an Anekdoten. Oder nur kaum. Die etwa über Ignaz Kirchner und den Salzburger All-Star-»Sommernachtstraum« liest sich lustig. Oder der Besuch von Botho Strauß bei ihm zuhause in Friedrichshagen. Vielsagend nicht so sehr, weil es um Texttreue geht und die Unsterblichkeit Brechts, sondern weil der Dramatiker der alten BRD im Jahr 1990 halb im Ernst noch von »Beatmusik« spricht.
Herzstück ist der Rückblick des staatlich aktenkundigen Ernst-Busch-Schülers, gelernten Druckers, Schauspielers mit Debüt in Gera und Regisseurs mit Debüt in der Provinz (»Parchim war der Gulag«) auf die eigene und überhaupt die DDR-Geschichte. Sein »Buh« könnte man auch auf die sozialistische Republik beziehen: »Die Haußmanns und die DDR – das war von Anfang an keine sehr glückliche Beziehung«, schreibt er. Die Stasi-Herren stufen ihn als »Kantinenbegabung und labilen Gewohnheitslügner« ein. Sarkastisch knapp rückt er die selbsternannten Protagonisten der friedlichen Revolution an ihren Platz und wertet das Interesse an ihnen als Fixierung der Öffentlichkeit aufs Spektakuläre.
TROTZIG JA, WEHLEIDIG NEIN
In einer Szene mit der Schauspieler-Freundin Steffi Kühnert verwerfen beide das eitle Filmmelodram »Das Leben der Anderen« mit seinen Klischees einer verdrucksten, flüsternden DDR. Es sei verquatscht und verschwatzt gewesen. Wie immer in kleinen engen Welten. Wie verhielt man sich denn bei offener Ermittlung und Beschattung? »Laut – die konnten mit lauten Leuten nix anfangen.«
Luc Bondy kommt in die Kantine. Auch er probt gerade am Peymann-Theater. Leander Haußmann geht für einen Moment zu ihm rüber – einen gewissen Respekt in der Figur.
Die DDR und ihre Erinnerungsreste: Manches will Haußmann lieber nicht sagen, bestimmte Namen nicht nennen: »Man ist sich zu fein dazu«. Zumal er nicht moderat bleibt, wenn er erst mal loslegt. Nicht dem Konsens gehorcht. »Trotzig« – ja; wehleidig – nein. Er sei keiner der »eingeschnappten DDR-Leute«, gleichwohl »Teil eines kollektiven Traumas«. Vieles sei ihm suspekt und lasse ihn wütend sein »bis zum Durchdrehen«. Er unterstellt »Dünkel, bildungsbürgerliche Hochnäsigkeit und Ahnungslosigkeit« des Westens. »Sonnenallee« war eine Antwort auf die »West-Konstrukte« und ein Statement: »Auch wir waren cool. Auch wir hörten die Stones.« Wie Billy Wilders »Eins, Zwei, Drei« ist es ein Film ohne den Anspruch, historisch korrekt zu sein: »Die Realität der DDR ist wie die Realität in einem Western. Wie eine Metapher, mit bestimmten Typen, Figuren und Situationen«.
Passagenweise setzt sich Haußmann, den die Eigen-Demontage nicht kratzt, obwohl er eher von »Selbstüberprüfung und Selbstauslieferung« spricht, in die reale Rolle des Trinker-Patienten in der stationären Suchttherapie. In Sitzungen mit dem Arzt betreibt er Selbstanalyse. Er sei verfolgt von der Langeweile, glaube, das Unglück anzuziehen, habe Bestrafungs-Fantasien, reagiere mit Spott auf das ihm Peinliche der Anderen und der Dinge, wie sie sind und wofür sie gehalten werden. Die Vorstellung, dass er damit »Druckabbau« schaffe oder gar der Menschheitsbefreiung diene, erinnert irgendwie an Christoph Schlingensief, mit dem er sich gut verstanden hat. Beiden hockt die Paranoia auf den Schultern wie ein nicht ganz zahmes Haustier.
ER HASST UND WIRD GEHASST
Sein Querulantentum, das er sich attestiert, das Neurotische und daraus folgende Unbotmäßige wird Haußmann nie los. Was nicht unangenehm ist. Im Gegenteil. »Man hasst mich«, schießt es aus ihm heraus. »Ich bin zwar übersensibilisiert, aber es ist auch was dran.« Seine Monologe – eine Erregung. Allein, wie ihn in Rage versetzt, dass seine historische Elf-Millionen-Komödie »Hotel Lux« boykottiert und ignoriert worden sei, vom Feuilleton und von der Filmakademie. Keine einzige Nominierung, nicht für die Musik, nicht für Bully Herbig habe es gegeben…!
Leander Haußmann, Vater dreier Kinder und Familienmensch (bei den Vorfahren gab es Beziehungen zu Hermann Hesse, Meret Oppenheim und den Wenger-Messer-Erfinder), erlebte im Vakuum der DDR enorme »familiäre und freundschaftliche Dichte«. Innig schreibt er über seinen Vater Ezard und dessen Sterben. Auch über die Vaterfigur, den Produzenten Günter Rohrbach, und den Wahl-Bruder Bernd Eichinger. Und natürlich über Heiner Müller, dessen »Germania 3« er in Bochum uraufführte, Müllers Wunsch beherzigend: »Mach es leicht«. Das ist sein Bemühen. Aber da in ihm das Alien des Destruktiven nistet – »Ich baue etwas auf und reiße es mit dem Arsch wieder ein« –, gelingt es nicht immer. Es ist wie mit dem speziellen Verhältnis von Pathos und Ironie bei ihm. Nicht nur anwendbar, wenn er Shakespeare und Ibsen inszeniert, sondern auch auf Haußmann selbst. »Wege offen halten aus der eindeutigen Emotion. Etwas deckeln, damit es nicht ausartet und übergriffig wird«, danach sucht er. Das habe »Charme«. Den hat er.
Leander Haußmann: »Buh. Mein Weg zur Reichtum, Schönheit und Glück«; Kiepenheuer & Witsch, Köln 2013, geb. 272 S., 16,99 Euro Erscheinungsdatum: 2. Oktober 2013.