TEXT: GUIDO FISCHER
Das Ende jeder Partitur beschließen zwei gefettete Doppelstriche. Hermetisch wie eine Wand stehen sie da und behaupten, dass alles gesagt worden ist. Was für ein Irrtum, findet zumindest Wolfgang Rihm! Denn für den zeitgenössischen Vielschreiber gibt es kein »Fertigkomponiert«. Vielmehr ist für ihn die vermeintlich allerletzte Note bereits das Samenkorn, aus dem Künftiges erwachsen wird. Weshalb Rihm korrigierend feststellt, dass die Doppelstriche nur in die Länge gezogene Doppelpunkte seien. So denkt er scheinbar Beendetes, Abgelegtes immer weiter. Ob nun seine eigenen Werke, die er neu belichtet und fortschreibt, oder Stücke von Schubert oder Brahms. Wer sich wie Rihm kompositorisch im ständigen Fluss befindet, darf keinesfalls im Programm des aktuellen Bonner Beethovenfestes fehlen.
Sein Schaffen belegt exemplarisch das Festival-Motto »Verwandlungen«. Um musikalische Metamorphosen und Variationen, Assoziationen und Annäherungen geht es in dem von der scheidenden Intendantin Ilona Schmiel konzipierten, vierwöchigen Konzertmarathon. Wie in ihrer Debüt-Saison 2004, mit der sie das damals leicht verschlafene Beethovenfest auf der internationalen Festivallandkarte etablierte, schlägt sie dafür den Repertoire-Bogen bis weit in die Gegenwart hinein. Neben einem vom Ensemble Modern präsentierten Soundtrack von Rihm zum Filmklassiker »Un chien andalou« spielen die Kollegen von der musikFabrik das Work in progress »Chroma« der englischen Rihm-Schülerin Rebecca Saunders. Das spanische Cuarteto Casals konzentriert sich auf den Einfluss des Streichquartett-Komponisten Béla Bartók auf seine ungarischen Landsmänner György Kurtág und György Ligeti. Der französische Meistercellist Jean-Guihen Queyras deckt in Cello-Suiten von Benjamin Britten die Spuren auf, die darin Johann Sebastian Bach mit seinen Solo-Cello-Manifesten hinterlassen hat.
Unter den aufgeführten Jubilaren finden sich nicht nur Britten (100. Geburtstag) und der Pole Krzysztof Penderecki (80. Geburtstag), der sein Klavierkonzert von 2002 dirigiert. Der 200. von Richard Wagner bildet einen kleinen Programmschwerpunkt. In zwei Konzerten schlüpft mit der Mezzosopranistin Dagmar Pecková eine der derzeit besten Wagner-Sängerinnen zweifach in die Rolle der Kundry. Unter Leitung von Christian Lindberg ist sie zusammen mit dem Beethoven Orchester Bonn klassisch in der Arie »Ich sah ein Kind« aus dem »Parsifal« zu hören. Zwei Wochen später steht Pecková im Zentrum eines jazzigen Kundry-Porträts. Zu Bigband-Klängen verwandelt sie sich von der Femme fatale und Erotomanin Kundry zur Büßerin und Heiligen.
KUNDRYS LACHEN
Nun sind im Laufe des runden Wagner-Jahres schon manche Jazz-Musiker unterschiedlichst auf Tuchfühlung mit seinen Opern gegangen. Der Schlagzeuger Eric Schaefer etwa lockte auf seiner CD »Who is afraid of Richard W.?« den Gefeierten mit Reggae- und Fusion-Beats auf die Tanzfläche. Der Bassist Dieter Ilg verlegte das Bühnenweihfestspiel »Parsifal« komplett in eine schicke Jazz-Lounge. Auf solche kunterbunt arrangierten Wagner-Appetitanreger hat die Saxofonistin Angelika Niescier bei ihrer Kundry-Reflexion für Mezzosopran und Bigband völlig verzichtet. Stattdessen lässt Niescier einem gleich zu Beginn ein hysterisches, gar irre wirkendes Lachen in die Glieder fahren.
Es ist Kundry, die damit im 2. Aufzug des »Parsifal« noch einmal ihre Schuld herausschleudert, einst den gekreuzigten Heiland verhöhnt zu haben. Im Laufe des einstündigen Psychogramms kommt es immer wieder zu gezischten, gespenstisch wirkenden Mahnungen, mit denen die Musikerinnen das schlechte Gewissen Kundrys nicht zur Ruhe kommen lassen. »Verführung«, heißt es da. Oder auch »Disziplin«. Wie manch andere Text-Passagen kommen auch diese beiden Begriffe nicht in Wagners Libretti vor. Dafür hat Niescier für die Gesangsstimme ausschließlich auf originale Klang-Zitate aus »Parsifal« zurückgegriffen und sie mit eigens im Modern Jazz-Stil komponierten Leitmotiven verzahnt.
Dass die Kölner Jazz-Saxofonistin und Komponistin sich für ihre erste musikalische Auseinandersetzung mit der Oper das deutsche Schwerstgewicht auswählte, geht auf einen Kompositionsauftrag der Deutschen Welle zurück. Unter dem Titel »Wagner in America« wurde Niesciers Kundry-Annäherung im Sommer in Washington uraufgeführt. Jetzt kommt sie im Rahmen des Beethovenfests zur Deutschen Erstaufführung.
KUNDRYS VIELE GESICHTER
Natürlich hatte Niescier im Vorfeld eine Auswahl an Wagner-Figuren, die sie ins Zentrum ihres Jazz-Projekts hätte stellen können. Doch Parsifal habe sie zuerst als Oper angesprochen, so die Musikerin: »Ich fand die Musik nicht so bombastisch. Der Klang war nicht so heavy wie in fast allen anderen Opern. Ich fand ihn eher leicht, intim.« Nachdem sie sich intensiv mit dem »Parsifal«-Personal beschäftigt hatte, wusste sie, dass ihr Augenmerk auf Kundry zu richten sein würde. Schon Thomas Mann sah in ihr eine »der stärksten, dichterisch kühnsten« Bühnengestalten Wagners. Auch Niescier war von den Doppelrollen und vielen Gesichtern fasziniert, die Kundry in dem gut vierstündigen Werk zeigt. Beginnend bei der männerverschlingenden Wilden über die Weise und Wissende bis hin zur reuigen Wanderin. Um das Konfliktpotenzial dieser mythischen Gestalt noch zu schärfen, hat Niescier ihrer Solistin zudem Ausschnitte der Partien von Parsifal, Amfortas und Gurnemanz geschrieben.
Mit beeindruckender Detailkenntnis des Werks bewältigt die gebürtige Polin das musikalische Wagnis. Dabei half ihr die vielseitige Arbeit als Komponistin etwa für Theater, Ballett und Sinfonieorchester. Was indes die Bigband-Kommentare angeht, befestigt Niescier da im Umgang mit der großen Tradition ihren Ruf als eine der einfallsreichsten Jazz-Musikerinnen Deutschlands. Legt sie den Dirigentenstab zur Seite, um am Saxofon ins elfstimmige Spiel des German Women’s Jazz Orchestra einzusteigen, wird der Einfluss ihres absoluten Helden John Coltrane allgegenwärtig. Trotzdem ist ihre Lust an rhythmisch komplexen Gebilden und eingängigen Melodieerfindungen unüberhörbar. Der Fantasie-Reichtum der heute 43-Jährigen wurde früh erkannt und mit Preisen ausgezeichnet. 1998 bekam sie den Düsseldorfer Förderpreis für Musik. Seitdem sie 2008 beim Moerser Jazzfest zum »Improviser in Residence« ernannt worden war, geht es für sie steil hoch. Zwei Jahre darauf erhielt sie für eine Aufnahme mit ihrem Quartett »sublim« einen ECHO-Jazz-Preis.
Auf all diese Erfahrungen konnte Angelika Niescier für ihre Wagner-Annäherung zurückgreifen. Wie sie betont, ist sie auch an ihn nicht mit größerem Respekt herangegangen als bei anderen Arbeiten. »Ich habe nicht vorgehabt, etwas zu zerstören oder zu zerbomben. Ich sehe das Projekt eher wie eine Art Entfesselung, die Befreiung dieser Figur, indem ich ihr einen Ton gegeben habe, den sie in der Oper nicht hat.« Solche Inspirationskräfte besitzen eben nur Meisterwerke, die statt mit Doppelstrichen insgeheim mit Doppelpunkten enden.
Angelika Niescier »Kundry«, 28. September 2013, Rhein-Sieg-Halle, Siegburg. Beethovenfest: 5. September bis 5. Oktober 2013, Bonn. www.beethovenfest.de