TEXT: ULRICH DEUTER
Im Herbst 1960 empfing der kürzlich verstorbene Berthold Beitz, Generalbevollmächtigter des damals noch lebenden Alleininhabers Alfried Krupp, Ludwig Mies van der Rohe in Essen. Beitz hatte den Jahrhundertarchitekten auserkoren, für die Stahlfirma ein neues Verwaltungsgebäude zu bauen, oberhalb der Villa Hügel. Mies sagte zu, im Februar darauf sandte er seine Entwürfe: ein Stahlskelettbau von 140 Metern Länge und 64 Metern Breite mit zwei Innenhöfen sollte es werden, ein mit grauem Spiegelglas verkleidetes Gebäude von »versnobter Unauffälligkeit«, wie der Spiegel damals schrieb. Die Realisierung gelang jedoch nicht, unter anderem weil der Plan, nur die oberen 400 der Krupp-Verwaltung aufzunehmen, sich mit der paternalistischen Wir-Ideologie der Firma nicht vertrug. So kam die mit Architektur-Juwelen der Moderne nicht eben reich gesegnete Rhein-Ruhr-Region um eine Kostbarkeit.
Genau 30 Jahre zuvor war bereits ein anderes, wahrscheinlich noch weitaus großartigeres Konzept Mies van der Rohes nicht verwirklicht worden, das Clubhaus für eine Krefelder Golf-Gesellschaft. Doch anders als an der Ruhr ist hier am Rhein der kategoriale Sprung von der Möglichkeit in die Wirklichkeit, vom Hätte zum Ist nun für ein paar Wochen geglückt: Im Stadtteil Traar steht, lagert, dehnt sich, schwebt auf einem Hügel über Feldern eine Realfiktion: das nach den Entwurfszeichnungen des Bau-Meisters akribisch errichtete Eins-zu-eins-Modell des »Golf Club Project«.
Das Gebilde ist eine Sensation – unterhalb von Superlativen kann man hier nicht formulieren. Im Grundriss beschreibt es in etwa ein an der Schnittstelle verdicktes, asymmetrisches Kreuz von 2.500 Quadratmetern Fläche und 91 auf 84 Metern Flügellänge – genau nach der Windrose ausgerichtet. Und eben zu allen Himmelsrichtungen hin müsse die Anlage sich unbedingt öffnen, hatte Mies in seiner Erläuterung zum Entwurf gefordert, den er im Rahmen eines beschränkten Wettbewerbs am 30. September 1930 an den Golfclub sandte. Nicht ganz zu allen Himmelsrichtungen: Gegenüber den kalten Ostwinden sollten Saal und Terrasse verschlossen sein.
EINE VORFAHRT WIE EINE STARTBAHN
Beide bilden das Herzstück des, im westlichen und nördlichen Kreuz-Viertel situierten, gesellschaftlichen Teils der eingeschossigen, vier Meter hohen Anlage: Hier sollte gespeist, gefeiert, Bridge gespielt werden. Der dem Sport vorbehaltene Komplex mit Umkleidekabinen und Trainerräumen formt den südlichen Flügel. Von noch schlankerer Ausdehnung als dieser und nur einem einzigen Zweck dienend der Ostflügel, eine 50 Meter lange, überdachte Vorfahrt, getragen, nein, zum Schweben gebracht von sieben mittigen Stützen – eine kühn und elegant in Himmel und Landschaft hinausfliegende Raum-Station.
Überhaupt die Stützen! Mies hat nur wenige Details seines Entwurfs ausformuliert, diese Stützen aber schon. Sie sollten filigran, von kreuzförmigem Grundriss und verchromt sein, derart durch Form und Spiegelung ihrer statischen Funktion optisch enthoben werden. Was – von den Modellbauern umgesetzt – wunderbar gelingt. Denn das ist die Grundmelodie dieses Hauses: Herstellung und Auflösung von Raum, Verschmelzung von Außen und Innen. Der »freie Grundriss« einer Stahlskelettkonstruktion macht dies perfekt möglich: Weil die Außenwände keine tragende Aufgabe mehr haben, konnte der Architekt sie vollflächig verglasen (und die Fenster vermutlich versenkbar sein lassen). Konnte mit fast zeichenhaften Mitteln – sozusagen das gotische Prinzip – Raum erschaffen, ihn in die umgebende Natur hineinschwingen und diese in ihn zurückfluten lassen. Steht man etwa im hinteren Teil des »Saals« und blickt durch die wie ein Triptychon gegliederten Fenster in zwei Richtungen hinaus, erscheint die dort an und für sich recht banale Gruppierung von Feld, Wiese, Wäldchen majestätisch, bedeutungsvoll, inszeniert – gerahmte Landschaft.
FORTSCHRITTLICHE SEIDENFABRIKANTEN
Der Krefelder Golfclub KGC war ein Trendsportverein der ortsansässigen Seidenindustriekapitäne. Gegenüber dem Zeitgeist und der Mode aufgeschlossen, waren diese Männer Mitglieder im Deutschen Werkbund, wo sie mit dem gebürtigen Aachener Ludwig Mies zusammentrafen. Der baute 1927 für den (in Krefeld ansässigen) Branchenverband das Messe-»Café Samt und Seide« in Berlin, zwei Jahre später für die Weltausstellung in Barcelona den Repräsentationsstand »Deutsche Seide« sowie 1930 für die Vereinigten Seidenwebereien in Krefeld sein einziges Fabrikgebäude. Berühmt und bekannt, weil heute Krefelder Kunstmuseen, sind zudem seine beiden Wohnhäuser für die Fabrikanten Josef Esters und Hermann Lange. Dessen Urenkelin, die Kunsthistorikerin Christiane Lange, hat nun mit dem 2010 gegründeten Verein »Mies van der Rohe in Krefeld« die temporäre Realisation des Clubhauses ermöglicht und dafür 650.000 Euro aufgebracht; umgesetzt wurde sie von den Genter Architekten Robbrecht en Daem.
Die wählten einen Standort 300 Meter östlich des ursprünglich vorgesehen (auf dem jetzt Wald wächst), verkleideten ein Stahlskelett mit Holzpaneelen und verlegten auf dem Boden ein mal ein Meter große Betonplatten, ein Maß, das Mies als Modul diente. Da, wo der Entwurf keine Aussagen trifft, wurde auf dem Boden Kies ausgeschüttet oder auch die Decke weggelassen – dies macht etwa den Umkleide- und den Küchenbereich skizzenhaft unanschaulich, dient aber der historischen Treue. »Saal«, »Terrasse«, »Halle« mit ihren kolossalen Raumwirkungen aber entschädigen vollauf; nach längerem Umherwandern (man möchte immer wieder und wieder hierhin und dorthin gehen, den vielen Blickrichtungswechseln nachspüren, die der Bau vorschlägt) imaginiert man sogar die Verglasung, auf die das Modell verständlicherweise verzichtet, und zögert beim Durchqueren einer Fensterfront. Aus welchem Material die wenigen Mauern errichtet worden wären, lässt sich nur vermuten, im dem dem Golfclub architektonisch verwandten »Barcelona-Pavillon« (Pavillon des Deutschen Reiches auf der Weltausstellung in Spanien) verbaute Mies innen Serpentinit, Travertin und Onyxmarmor und wird dies wohl auch hier (etwa im Eingangsbereich) im Sinn gehabt haben; außen ist verputztes Mauerwerk zu vermuten, das die weiß geschlämmten Holzflächen des Modells ganz gut umschreiben.
Das Projekt wäre einer der großartigsten Bauten geworden, die Mies je entworfen hat – verwirklicht wurde es, wie angedeutet, nie. Nicht etwa, weil Mies’ Mitbewerber August Biebricher, ein Traditionalist, den Zuschlag erhalten hätte, sondern weil der Golfclub Finanzprobleme bekam. Er erbat noch von den Wettbewerbern kleinere Entwürfe, Mies für seinen Teil sagte dies auch zu, lieferte aber nicht. 1930 feierte der KGC die Eröffnung seines Platzes in einer Baracke statt in einer Ikone des »International Style«. Allerdings gibt es noch eine schrecklichere Vorstellung als das Wissen um die Nichtrealisation: 1938 enteignete die Wehrmacht den Golfclub und wandelte das Terrain, einen eiszeitlicher Sander, dessen Schotter und Sand sich gut zum Panzerfahren eigneten, in einen Truppenübungsplatz um, der dort bis in die 1990er Jahre blieb. Wahrscheinlich hätte das Mies’sche Baukunstwerk diese Aktion nicht überlebt.
»Mies 1:1. Das Golfclub Projekt«, bis 27. Oktober 2013, Mi bis So. www.projektMIK.com