INTERVIEW: REGINE MÜLLER
Eines der drei Musiktheater-Großereignisse der Ruhrtriennale ist die Neuproduktion von Helmut Lachenmanns »Das Mädchen mit den Schwefelhölzern« in der Regie von Bob Wilson. Lachenmanns bisher einzige Oper nach Texten von Hans Christian Andersen, Gudrun Ensslin und Leonardo da Vinci gilt als exemplarisch für die radikale, komplexe Geräusch-Klangsprache des Komponisten wie auch für seine sich bewusst abgrenzende Position vom gut eingespielten Neue-Musik-Betrieb. Das 1997 uraufgeführte Werk wurde bislang nicht häufig nachgespielt, auch wegen der besetzungstechnischen Anforderungen. In der Bochumer Jahrhunderthalle lässt sich ein Raum-Bühnen- und Lichtkonzept erwarten, das Lachenmanns ursprüngliche Idee, Publikum und Ausführende in einem vollständigen Ring einzuschließen, womöglich erstmals konsequent verwirklicht. Ein Gespräch mit dem 1935 geborenen Helmut Lachenmann über ästhetische Gewissheiten und Spielräume.
K.WEST: Sie kommen eben von einer Orchesterprobe. Wie bringen Sie sich in die Einstudierung mit ein?
LACHENMANN: Es gibt in meiner Musik Spieltechniken, die vielen Musikern nicht vertraut, manchen gar unheimlich sind. Die kann ich am besten selber erklären und – etwa bei Streichern – am Instrument demonstrieren. Das ist meistens die schnellste Art, weiter zu kommen.
K.WEST: Bei der letzten Aufführung des »Mädchens mit den Schwefelhölzern« an der Deutschen Oper Berlin 2012 hörte man von sagenhaften Probenstunden für das Orchester. Sind die Spieltechniken so diffizil?
LACHENMANN: Diese Spieltechniken, einmal verstanden, sind im Grunde gar nicht so schwer. Schwer sind allerdings die Wechsel zwischen ihnen, all das zügig hintereinander und genau im Rhythmus auszuführen! Das ist ein Problem genau vorbereiteter Choreografie.
K.WEST: Man hat den Eindruck, Sie werden zwangsweise mit diesen Spieltechniken in Zusammenhang gebracht. Dabei waren Sie beileibe nicht der erste Komponist, der von klassischen Spieltechniken abwich …
LACHENMANN: Natürlich nicht, es gab schon ungewohnte Spieltechniken u. a. bei Cage oder Kagel, oft sogar wilder und aggressiver. Bei mir ist das fast schon wieder abgeklärtes, unaufdringlich genutztes, gleichsam standardisiertes Repertoire.
K.WEST: Der Untertitel Ihrer Oper lautet: »Musik mit Bildern«. Das evoziert Statisches, von wenig Aktion Belebtes?
LACHENMANN: Ich dachte beim Schreiben eher an eine Art von akustisch artikuliertem, quasi meteorologischem Zustand, dessen Statik ja auch permanenter Verwandlungsdynamik unterworfen ist. Es schneit und der Abend dämmert, später stehen die Sterne am klaren Nachthimmel, die klirrende Kälte wird unerträglich, erzwingt den verbotenen Verbrauch der Schwefelhölzchen usw. Bilder, durchsetzt von Verwandlungen. Ich unterscheide gerne zwischen Musik als Text – wie etwa eine Bach-Fuge eher ein Text ist – und Musik als Situation, etwa der Anfang von Wagners »Rheingold«. Letztere Vorstellung steht meiner kompositorischen Praxis näher: Musik als eine Art zu begehender oder zu beobachtender oder zu entdeckender Landschaft, die sich auf verschiedenen Ebenen wandelt, durch sich verändernde Beleuchtung im Ablauf des Tages oder durch die Jahreszeit. Hören wird zum Beobachten bzw. zu einer Art Abtastprozess eines sich transformierenden Zustands. Das hat auch einen statischen Aspekt, aber nicht nur. Es passiert ja auch etwas – das Anzünden eines Streichholzes oder die vom Mädchen glücklich erlebten Halluzinationen. Vielleicht hätte ich es nennen sollen: »Musik mit bewegten Bildern«.
K.WEST: Worin sehen Sie die Aufgabe des Regisseurs?
LACHENMANN: Fast alle Regisseure haben zu mir gesagt: Du hast doch schon alles in Deiner Musik komponiert, was bleibt da noch zu tun? Eine gute Frage, denn da fängt die Aufgabe des Regisseurs tatsächlich an. Ich frage mich zum Beispiel, ob die Hauptperson vielleicht gar nicht das kleine Mädchen ist, sondern vielmehr die Hauswand, an der das Mädchen die Schwefelhölzer entzündet, die dabei »durchsichtig wird wie ein Flor«. Aber es gibt viele andere Möglichkeiten, meine Partitur gibt dazu keine bindenden Richtlinien. Und ich lasse mich überraschen.
K.WEST: In die Märchenvorlage haben Sie Texte von Gudrun Ensslin und Leonardo einmontiert. Das muss man allerdings wissen, denn das akustische Verstehen fällt nicht eben leicht.
LACHENMANN: Es gibt immer wieder diesen Einwand: Kein Mensch kann den Leonardo-Text verstehen. Beim ersten Mal vielleicht nicht. Aber wer will schon beim ersten »Tristan«-Erlebnis den Text verstanden haben? Der Leonardo-Text wird in Bochum von Angela Winkler gesprochen und zwar in der 2003 revidierten Fassung: Er wird sehr einfach flankiert von fünf breiten Orchesterfermaten, von klingend gefärbter Stille sozusagen. Auch da habe ich die Verstehbarkeit insofern verkompliziert, als nicht einfach ausdrucksvoll deklamiert, sondern der Text zugleich als phonetische Klangwelt begriffen werden soll. So wird aus »Ich« ein gleichsam rhythmisiertes »I – CH«. Der Hörer erfährt den Text als Folge akustischer Signale, die im Gedächtnis behalten und addiert werden. Oft muss man einige Sekunden warten, bis ein relativ sinnloser Laut sich zu einem sinnvollen Wort ergänzt. Die Stimme wird zum Phoneme gestaltenden Musik-Instrument. Und das Hören zum Entziffern. Zuhören reicht nicht. Das gilt generell für all meine bisher geschriebene Musik, wie für jede Musik, in der es etwas zu entdecken gibt. Vielleicht ist solcher Versuch einer radikalen Sensibilisierung die eigentliche Botschaft meiner Oper.
K.WEST: Wie sieht Ihre Zusammenarbeit mit Robert Wilson aus?
LACHENMANN: Im Gespräch versuche ich möglichst klar zu artikulieren, welche Art von Wahrnehmungs-Situation ich mir vorstelle und – gerade auf dem Weg über eine mich berührende außermusikalische Handlung – wie wichtig mir dabei die darauf reagierende Struktur der Musik ist. Mein Märchen mitsamt seiner gesellschaftspolitischen Dimension soll als Anklage menschlicher Gleichgültigkeit, als Kehrseite bürgerlicher Geborgenheit, als eine Art musikalischer Vor-Wand auf dem Umweg über die Herausforderung unseres Wahrnehmungsvermögens den Betrachter an seine immer wieder neu zu sensibilisierende Geistfähigkeit erinnern. Es gibt für mich keine andere Rechtfertigung für einen kompositorischen, das heißt ästhetisierenden Zugriff auf eine so tief ergreifende Geschichte.
K.WEST: Auch die in das Märchen montierten Texte behandeln existentielle Grenzsituationen. Die Musik aber ist von schwebender Zartheit, sinnlicher Schönheit. Der Kosmos subtilster Geräusche summiert sich zu einer naturhaften Dichte. Einer zweite Natur sozusagen.
LACHENMANN: Ich habe die Komposition verstanden als eine Art heiterer, quasi tänzerisch zu musizierender Musik. Vergleichbar dem, wenn Richard Strauss seine »Salome« ein Scherzo mit tödlichem Ausgang nannte. Heiterkeit, weit entfernt von Lustigkeit, als tiefere, nicht wehleidige Form von wie auch immer bewältigter Trauer, Angst, Resignation, Verzweiflung. Dem wachsam Hörenden werden die Gigue, das Siciliano, die Valse, die Polka, die Sarabande, nicht entgehen.
K.WEST: In Berlin hat Regisseur David Hermann auf der Bühne konkrete Assoziationsangebote geliefert. Von Bob Wilson weiß man, dass er die Abstraktion, die ritualisierte Geste vorzieht. Was kommt Ihnen mehr entgegen?
LACHENMANN: Ich mag nicht das eine gegen das andere ausspielen. Es gibt eine Dialektik, in der beide sehr schematischen Begriffe ineinander aufgehen. Als strukturelle Erfahrung wird alles Konkrete abstrakt – und alles Abstrakte konkret.
K.WEST: Sie gelten als streitbar und ihre ästhetische Position polarisiert nach wie vor.
LACHENMANN: Meine nicht ganz unleichtfertige Definition aus den 1980er Jahren von Schönheit als Verweigerung von Gewohnheit wird mir heute noch nachgetragen. Man hat das geflissentlich falsch interpretiert als Verweigerung von Genuss, man unterstellt mir eine negative, grundsätzlich verweigernde Grundhaltung. Ich bin aber nicht gegen Schönheit, im Gegenteil! Schönheit als emphatische Erfahrung von Kunst ist für mich untrennbar verknüpft mit dem Abenteuer der Entdeckung und befreienden Erweiterung des eigenen ästhetischen Horizontes und unverzichtbar als Erinnerung daran, dass wir geistfähige Kreaturen sind. Es ist eine Glücks-Erfahrung wie bei einer Bergbesteigung.
»Das Mädchen mit den Schwefelhölzern«, Premiere: 14. September 2013; Auff.: 18. bis 22. September 2013; Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de