TEXT: ANDRÉ MUMOT
Es muss schnell noch einiges erklärt werden, bevor man diese Realität verlässt und in all die anderen eintaucht. »Ihr könnt alles anfassen, alles ausführen«, sagt Helgard Haug zu den zwanzig Theaterprobanden, die gebannt an ihren Lippen hängen. »Nur bitte die Tomatensuppe nicht essen, die ist noch vom Durchgang in der letzten Woche.« Aha. Bevor jeder Teilnehmer an seinen Ausgangspunkt geführt wird, sollten noch Taschen, schwere Jacken und Notizblöcke zurückgelassen werden. Man muss nämlich beide Hände freihaben. Das erleichtert den Weg – und erhöht zugleich die Spannung. Denn wer etwas abzulegen hat, deponiert es im Hinterzimmer und erhält einen kurzen Blick hinter die Kulissen. Hier sitzen mehrere Mitarbeiter vor einem komplizierten Aufbau von Rechnern und Monitoren. Wie im Schlaflabor, in einer Security-Überwachungszentrale oder in der Truman-Show. Sie werden uns jetzt fernsteuern. Mitten hinein in Krisengebiete, an Schießstände, in Flüchtlingsunterkünfte.
Rimini-Protokoll konfrontiert sein Publikum immer mit konkreten Ausschnitten der Realität, macht Bühnen und Spielflächen zum Begegnungsort mit Menschen, die über ihr Leben sprechen, lässt den Zuschauer so dicht wie möglich herankommen, setzt ihn in LKWs oder ans Telefon, um mit Callcenter-Agenten am anderen Ende der Welt zu reden. In ihrer aktuellen Arbeit beschäftigen sich Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel mit den labyrinthischen Abwegen des internationalen Waffenhandels, begnügen sich diesmal jedoch nicht damit, ihr Publikum zu den Experten des Alltags zu führen. Diesmal sollen sie in deren Rolle schlüpfen, die Realität mit den Augen der Akteure sehen. »Situation Rooms« ist ein Multi-Player-Videostück: Mitmachtheater 2.0 zwischen Blutbad und Strategiegespräch.
ORIENTIERUNG BIETET EIN I-PAD AM STIEL
Zu Beginn erhalten alle Besucher ein iPad am Stiel. Genauer: einen an einem handschmeichelnden Holzgriff angebrachten Tablet-Computer mitsamt eingesteckten Kopfhörern, auf den sie sich im Folgenden zu konzentrieren haben. Zwanzig aneinander angrenzende Räume hat man vor sich, zwanzig kurze Filme haben die Alltagsexperten in ihnen gedreht, die jeder Teilnehmer in anderer Parcoursreihenfolge wie ein geleiteter Museumsbesucher abschreitet. Dabei wird man immer von den Stimmen und ihren Geschichten begleitet. Kurze Erinnerungen, Episoden aus dem Leben eines ehemaligen Kindersoldaten aus dem Kongo. Eines deutschen Sportschützen. Eines früheren israelischen Soldaten. Wobei man dazu angehalten wird, die Bewegungen seines virtuellen Gastgebers synchron mit ihm auszuführen. Geht der Alltagsexperte durch die linke Tür, folgt man ihm durch diese. Öffnet er eine Schublade, öffnet man sie auch. Isst er Tomatensuppe – nein, halt: Die ist von letzter Woche.
Die Versuchsanordnung ist kompliziert, verwirrend zu Beginn – und bald schon ungemein verblüffend. Es ist später März, über Berlin gehen erbitterte Schneeschauer nieder. Es dauert noch eine ganze Weile bis zur Ruhrtriennale und zur offiziellen Premiere in der Turbinenhalle Bochum, also erwarten die Gäste, Journalisten, Freunde bei dem strategischen Probelauf in den Weddinger Uferstudios höchstens skizzenhafte Ansätze von dem, was später den Parcours ausmachen wird. Dann steht man plötzlich auf einem Balkon und blickt auf die düstere Skyline vom nächtlichen Islamabad, hat eine Wäscheleine vor sich mit echter Wäsche daran – und fällt aus der Zeit. Man tritt durch eine Tür und ist in einer strahlend weißen mexikanischen Friedhofsattrappe voller kleiner makabrer Ikonen, über den Kopfhörer erfährt man Ungemütliches über die Gewalt- und Unterdrückungsstrukturen innerhalb der südamerikanischen Drogen-Kartelle.
ORT IST EINE OBSKURE MESSE
Eine Tür weiter befindet sich das Büro eines Schweizer Managers der Rüstungsindustrie und dessen Schreibtisch. Hinter den mit Lamellen verhängten Fenstern ist Tag, Häuser stehen in der Entfernung – tatsächlich täuschend echt. Später, heißt es, sollen in den Winkeln des lebensgroßen Puppenhauses auch noch die entsprechenden Raumtemperaturen, Umgebungsgeräusche und Lichtverhältnisse weiter perfektioniert werden.
Es geht Treppen hinauf und hinunter. Dann der Showroom einer obskuren Messe, wo man den Blickwinkel von Emmanuel Thaunay annimmt, der sich selbst der »Armani der Sicherheitsweste« nennt. Die Besucher ziehen die schusssichere Weste selbst an, ebenso wie einen Handschuh, in den ein Waffendetektor eingebaut ist, der sich bei einem anderen Teilnehmer ausprobieren lässt.
Die »Situation Rooms« sind faszinierend detailtreu gestaltet. Gerne würde man sich genauer in ihnen umsehen, die Atmosphäre auf sich wirken lassen. Doch der Blick muss immer auf die iPads gerichtet bleiben, weil sonst Gefahr besteht, den Anschluss zu verpassen oder womöglich eine der Aktionen nicht auszuführen, die zu Kettenreaktionen führen.
In der so genannten Drohnenbox etwa, in der simuliert wird, wie tödliche Geschosse aus weiter Entfernung ferngesteuert ihr Ziel finden, bleibt einem die Stimme des pakistanischen Anwalts Shazad Akbar im Kopf, der sich für die zivilen Opfer solcher Angriffe einsetzt. Stellvertretend für ihn wirft man eine Murmel in eine Öffnung, die zum richtigen Zeitpunkt im Kellerraum auf ein Modell des Mahnmals trifft, das der Friedensaktivist Ulrich Pfaff in seinem Vorgarten in Oberndorf gegen Krieg und Faschismus aufgestellt hat, dort, wo die Firma Rheinmetall und der Waffenhersteller Heckler & Koch ansässig sind.
Es ist bereits der zweite Probedurchlauf an diesem Tag; bei der Nachbesprechung sitzen die Teilnehmer mit roten Köpfen beieinander, sprechen Deutsch und Englisch. Begeistert, erschöpft, leicht überfordert. »Ich bin mindestens zwei Mal falsch abgebogen«, berichtet jemand. Helgard Haug macht sich lächelnd Notizen, Daniel Wetzel tigert auf und ab, reibt sich den Nacken. Ja, es muss noch gefeilt werden am minutiös geplanten Ineinandergreifen aller Einzelheiten.
WIRKLICHKEIT IST FRAGMENT
Einige Tage später berichtet Stefan Kaegi, die Alltagsexperten hätten alle Filme in den Kulissen neu aufgenommen: »Jetzt ist es weniger hektisch, die Wege sind klarer.« Aber das leichte Überforderungsgefühl im multiperspektivischen Weltertasten ist durchaus gewollt. »Das Verrückte ist ja, dass es diesen Leuten, die sich mit Waffen und ihrer Verwendung auseinandersetzen, meist ebenso geht. Sie hören auf Experten oder sehen einen Ausschnitt der Realität auf Videobildern, in Fernsehübertragungen etc. Für alle bleibt es fragmentarische Wirklichkeit, und den meisten fehlt der Überblick.«
Umso verführerischer der Gedanke, alle zusammenzubringen: Den Kriegsfotografen und Chirurgen, der für Ärzte ohne Grenzen in der Sierra Leone tätig ist, den Politiker und den Techniker im Rüstungswerk. »Wir haben unsere Akteure auf der ganzen Welt zusammengesucht«, berichtet Kaegi, »aber wir hätten sie niemals für mehrere Gastspiele auf die Bühne bekommen. Daher haben wir uns für den Filmdreh entschieden.« Was für erstaunliche Begegnungen sorgte. »Jan van Aken, Bundestagsabgeordneter der Linken, zum Beispiel hat sich intensiv mit dem Rüstungsmanager unterhalten – die haben sich richtig gut verstanden. Wohl, weil sie ausnahmsweise mal nicht auf verschiedenen Seiten einer Anhörung saßen.«
Es geht also weniger darum, sich für wenige Minuten mit unterschiedlichen Perspektiven zu identifizieren, als ihre herausfordernd komplexe Gegensätzlichkeit und Verstricktheit zu erleben, wobei klare Grenzen bewusst verwischen. »Normalerweise wird über diese Fragen immer nur national diskutiert, aus einer bestimmten Weltsicht heraus oder mit einem klaren tagesaktuellen Bezug. Als Schlagzeilenmaterial. Wir wollen eine weitere Spannbreite zeigen, möglichst viele, möglichst komplexe Realitäten. Ddarstellen, wie politische und wirtschaftliche Entscheidungen individuelle Biografien konkret prägen.«
Einfache Antworten sucht man folgerichtig vergebens. Auch Stefan Kaegi zögert. »Einseitige Abrüstung kann manchmal schlimme Folgen haben, das wissen wir. Der Syrer, der bei einer Demonstration in Homs einen schlimmen Schuss abgekriegt hat, sagt, seine Freunde bräuchten auf jeden Fall Waffen, um zu überleben. Da kommt man nicht weit mit einseitigen Parolen.«
Wieder also zeigt Rimini-Protokoll vor allem Leben, stellt es aus, schafft mediale Distanz und überraschende örtliche Nähe. Schusswunden und Schießstände, Wäsche auf der Leine und Tomatensuppe. Am Ende führen alle Wege in den Konferenzraum, alle Teilnehmer treten sich gegenüber. Ratlos. Trotzdem, man atmet durch und will noch einmal hinein ins Labyrinth, will die Wahrheit auf dem Tablet und in den Attrappen finden. Auch wenn sie nicht leicht zu ertragen ist.
»Situation Rooms«; 23. August bis 15. September, freitagsküche: 13. September; Turbinenhalle, Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de