Kaum dass man die Lindnerstraße in Oberhausen verlassen hat und nordwärts auf den schmalen Radweg eingeschwenkt ist, weht er herbei: der Geruch von Holunder. Dieser bitter-lockende, irgendwie staubig-warme Geruch, der Kindheitserinnerungen wachruft: Sommerhitze und Verstecke im Brachland, Schlüpfen durch Überwuchertes, Rühren an Schlafendes, Aufgegebenes. Nur ein paar Meter abseits der großen Straße, auch wenn man auf ausgeschildertem Radweg fährt, ist man sofort wieder: im Hinterland. In diesem für das Ruhrgebiet so typischen, hier so zahlreichen und immer wieder überraschend auftauchenden undefinierten Raum zwischen Industriebrache und Wohnsiedlung, Gleisbett und Schrebergartengelände, Straße und Kanal.
Mit dem Mietrad geht es auf »Tour 2« der »Emscherkunst 2013«, vom Besucherzentrum am Niederrheinstadion nach Westen zum Landschaftspark Duisburg-Nord, von dort im Bogen nach Marxloh und zurück nach Oberhausen, eine Rundfahrt von 36 Kilometern. Es ist soweit, die große Open-Air-Kunstausstellung, die im Kulturhauptstadtjahr 2010 auf der ›Insel‹ zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal ihre Premiere hatte und inzwischen zur Triennale aufgewertet ist, beginnt ihre zweite Staffel.
Jetzt ist es das Gebiet zwischen Gelsenkirchen und Dinslaken – über Essen, Bottrop, Oberhausen, Duisburg –, das bespielt wird. Das am besten, ja das unbedingt erradelt werden sollte, noch mehr als vor drei Jahren schon. Denn die im Fünfminutentakt wechselnden Eindrücke dieser Stadtraumindustrienaturlandschaft sind nur auf dem Rad wirklich zu erleben; für eine Fußwanderung wären die Distanzen zu weit – 47 Quadratkilometer misst das Ausstellungsareal –, mit dem Auto lassen sich zwar die Kunstwerke erreichen, nicht aber der Raum dazwischen. Auf den sich jedoch die 30 Arbeiten (davon 18 neue) ausdrücklich beziehen. Lagen die Standorte der ersten Staffel noch alle entlang Emscher und Kanal, so greift die zweite erklärtermaßen aus in die industriell-postindustrielle Stadt, vor allem in Duisburg.
ASCHEBODEN UNTEN, OB DIE AUTOBAHNBRÜCKE
Noch sind wir in Oberhausen. Abrupt mündet der Radweg in einen großen, undefinierten Platz, in letzten Pfützen im schwarzen Ascheboden schimmert dunkles Wasser, fast der ganze Himmel wird von der Brücke der A42 verdeckt. Es ist ein Ort, so bezeichnend, dass man sich sofort fragt, was er wohl solle, wem er wohl diene.
Natürlich gibt es darauf keine Antwort. Also wieder hinein ins Buschgrün, der Radweg steigt an, die Büsche bleiben zurück, leicht schnurrt das Rad auf der Deichkrone links der Emscher dahin, die unten trüb in ihrem schnurgeraden Betonbett fließt. »Grüner Pfad« steht groß auf einer querenden Emscher-Brücke, die offensichtlich für weit Schwereres konstruiert ist als für ein paar Radwanderer. Richtig, einst verlief hier die Trasse der Köln-Mindener Eisenbahn, gebaut in den 1870er Jahren, um Kohle von Dortmund an den Rhein zu transportieren; der Regionalverband Ruhr hat die stillgelegte Strecke als eine der ersten zu einem Radweg umgeformt.
Der führt jetzt wieder durch hohes Buschland: Ruderalvegetation aus Sandbirke, Sommerflieder, Brombeere. Und immer wieder ganze Gruppen drängend duftenden Holunders. Wo sind wir, noch in Oberhausen? Dann über einen Bach in der Rinne: die Kleine Emscher, ein Ärmchen des alten Mündungsdeltas des Emscherflusses, bevor er, der aufgrund von Bergsenkungen zu versickern drohte, weiter nach Norden verlegt wurde.
AUF EINMAL IN DUISBURG
Es geht unter einer Eisenbahnlinie, dann erneut unter der Autobahn durch, es wird die A3 sein. Dann ein Areal, lieblich-herb wie im Münsterland, man blickt von hinten in Gärten und auf Wohnhäuser, rechts ist es weit. Ein Birkenwäldchen umfängt den Weg und taucht ihn in dämmrige Lauschigkeit, links irgendein altes Backstein-Ensemble, Werkstätten, Wohnhäuser. Abrupt eine vierspurige Straße samt Trambahn in der Mitte, nochmals eine Autobahnbrücke schräg darüber, dann wieder so dichtes Grün, als wär nichts gewesen, Grün, das sich auflockert und Anzeichen einer Parkgestaltung zeigt: Kaum zu glauben, aber da wachsen die Hochöfen von Duisburg-Meiderich auf, und eben war man doch noch in Oberhausen gewesen! Wie nah die Städte und Stätten des Ruhrgebiets beieinander liegen, wenn man nicht den Autobahnen, sondern den alten Routen der Industrieproduktion folgt, den Bahntrassen, dem Kanal.
Durch den Landschaftspark Duisburg-Nord schlängelt sich der Weg…
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22. Juni bis 6. Oktober 2013. www.emscherkunst.de. Fahrradverleih im Gelsenkirchener Nordsternpark, am Kaisergarten in Oberhausen und am Emschermündungshof in Dinslaken, 9 Euro pro Tag