EINE GLOSSE VON ULRICH DEUTER
Unser Landesverkehrsminister heißt Michael Groschek. Sein zerfurchtes Gesicht hat er sich nicht ausgesucht, ausgesucht hat ihn die Ministerpräsidentin, damit sein zerfurchtes Gesicht der Botschaft Nachdruck verleiht, mit der Groschek in letzter Zeit immer häufiger zu hören ist: Der Asphalt ist kaputt. Unser Straßennetz ist völlig marode. Auf den Fahrbahnen klaffen ein Leben lang gewachsene Risse, die Ambiguitätstoleranz bei Dutzenden von Brückenbauwerken ist so stark gesunken, dass jede Erschütterung eine Gefahr darstellt. Was da unaufhörlich auf der versiegelten Erdoberfläche rollt, ist das bewegte Miniaturbild unserer Gesellschaft, lärmender Ausdruck unserer unbefriedeten Seele; so wie die Furchen in Groscheks Gesicht Ausdruck seiner tiefen sozialdemokratischen Brückeneinsturzbesorgnis sind: Belaste mich, und ich werde auseinanderfallen wie die Rheinquerung der A1.
Die Soziologie steht mit dem Klemmbrett auf der Autobahnbrücke, schaut hinunter und sieht: uns. Rechts die Gutmenschen, auf der linken Spur die Globalisierungsbefürworter, in der Mitte die steuerehrliche, nachbarschaftshilfsbereite, zuwanderungsfeindliche Mehrheit. Sie ist langweilig gekleidet und besitzt ein Opern-Abo. Nun sollen sie auf der Autobahnbrücke alle gleichermaßen 60 fahren.
Für eine Sanierung ist es bei den meisten Brücken zu spät, man hatte gedacht, es reicht, dass man sie aus freiheitlich-demokratischem Nachkriegsbeton gießt, jetzt stellt sich heraus, man hätte sie jährlich auf ihre Haltung hin überprüfen müssen. Denn jetzt ist die erste Brücke eingekracht, die vielbefahrene Rheinopernüberführung. Ein Mannheimer Regisseur ist mit seinem überlasteten 40-Tonner darübergewalzt – ein Tannhäuser-Fahrgestell mit der Güterzuglast von Auschwitz zu beladen, das konnte nicht gutgehen, nicht bei diesem geschichtsabstoßenden Düsseldorfer Beton. Ein Bersten, ein Krachen, am Ende saßen 40 Zuschauer mit pharisäischem Fieber beim Theaterarzt. Sie hatten mitansehen müssen, was sie nun wirklich nicht gewusst hatten: Gaskammern in A.! Festlich gestimmt waren sie auf die Autobahn getreten, um dem Abendgesang der Vögel zu lauschen. Waren sie in den Musentempel geschritten, um mit schräg gelegtem Kopf in chromatischer Sehnsuchtsspannung zu schwelgen, um, von einem Schlückchen Foyerchampagner leicht erhoben, die Schmerzbegierde des Minnesängers zu genießen. Und dann haut auf einmal diese schnöde Tonika hinein, donnert dieser Gigaliner auf einmal daher! Das inkriminierte Lastkraftfahrzeug hat der Intendant sofort stillgelegt, aus Angst vor dem Halskettengerassel der Düsseldorfer Gattinnen. Schließlich sieht man sich ja bei Gabriele Henkel oder Ute Ohoven. Obwohl der LKW in einem Zustand gewesen wäre, weitere Kulissenordnungen und Kunstmissverständnisse zusammenbrechen zu lassen. Auch der Mannheimer Regisseur hat sich ins Fieber empört, man nahm ihm ja seinen Spielzeug-Brummi, seinen Gaslaster mit Skandalautomatik. Der Düsseldorfer Oberbürgermeister hat zu all dem nichts gesagt, seine Frau aber soll geseufzt haben: Kunst ist doch Genuss! Nach dem Unfall wies »Straßen.NRW« darauf hin, dass das Autobahnnetz eben nur bis zu einer bestimmten Grenze historisch belastbar sei, eigentlich aber gar nicht. Und die Landstraßen? Und die Straßen in unseren Städten? Sollte man ihre Benutzung nicht am besten ganz einstellen? Die Rheinoper beweist mutige Angst: alle Opern nur noch konzertant! Im Foyer ein Schild mit durchgestrichenem Wirklichkeits-Wauwau: »Ich muss draußen bleiben!«