TEXT: ULRICH DEUTER
Die Wirklichkeit liegt auf keinem Tablett, und das Leben ist ein verdrehtes Kleidungsstück, in das man immer wieder neu die Arme zu stecken versucht. Aber wer ist man selbst? Diese bohrende Frage zu beantworten, flohen junge Menschen schon immer in die Ferne, verliebten sich unerfüllt, probierten Iche und Philosophien. Um zu wissen, was wirklich ist, halten Kinder die Luft an oder krampfhaft die Lider offen wie der 15-jährige Rupert, der überzeugt ist, eines Tages werde hinter der im starren Blick verschwimmenden Welt »das Niegesehene sichtbar werden: die wirkliche Welt, der rohe Raum. Das nackte und grauenhafte Draußen.« In jenem Sommer hing Rupert eng mit Robert zusammen, brachte Ruperts Mutter sich um, wurde Robert schizophren. Wie aus dem Gegenlicht tauchte damals Ana auf, mutterlose Tochter eines aus dem Iran geflohenen Trinkers, und wurde Ruperts große erste Liebe. Nun sitzen er und Robert, erwachsen geworden, im Flugzeug nach Teheran, um Ana zu suchen, die auf der Suche nach ihrer verschollenen Mutter ihrerseits im Land der Mullahs verschollen ist. Sein soll. Robert nimmt seine Medikamente. Rupert blinzelt noch immer über die Wirklichkeit hinweg.
Andreas Stichmann ist 1983 in Bonn geboren, wurde am Leipziger Literaturinstitut ausgebildet, lebt in Hamburg, »Das große Leuchten« ist sein erster Roman. Der ist, was ihn ein wenig kalkuliert konstruiert erscheinen lässt, Road Novel und Coming-of-Age-Roman zugleich, mit vielleicht etwas zu viel Zutaten aus der Tüte urbaner Off-Kultur. So leben Rupert und Ana wie Bonnie & Clyde an den aufgerissenen Rändern der Bürgerlichkeit, machen Überfälle, hausen mit einer alles filmenden Drag Queen im Wohnwagen, probieren Drogen und gefährlichen Sex. In einem wahnhaften oder traumhaften Akt des Fremdwohnens schmiegt Rupert sich an das Leben einer kleinen Familie in ihrem kleinen Heim, erfüllt von der Sehnsucht, einfach dazubleiben. Die Browning unterm Parka im Holster.
»Das große Leuchten« ist aber auch, und das lässt dieses Debüt erstrangig sein, von einer reifen, ganz eigenen Sprache: ein Schwarm lakonischer, dabei federnder Sätze, die mit jedem Aufschwung melancholische Schatten werfen. Oder komische, bisweilen. Eine Sprache, die, ohne effektheischend oder auch nur spekulativ zu sein, Innen- und Außenwelt in einer Schwebe hält, die jedem Menschen nach der Kindheit gewöhnlich zerbricht. Der Gang der Erzählung ist parallel montiert: einmal Deutschland, Rückblick und wildzarte Liebe; dann wieder Iran, Jetztzeit und Suche nach Ana. Abseits von Teheran soll ein »Derwischmann« die beiden Freunde auf die Spur von Anas Mutter und damit Ana bringen. Aber »Einer von uns«, sagt der esoterische Greis über Rupert, den Ich-Erzähler, »ist nicht vorhanden«.
Der irre Derwisch und der schizoide Robert verstehen sich gut. Immer tiefer führt die Suche ins exotische Land, dessen Beschreibung auffallend hartnäckig verweigert wird, »Ich möchte das Oberhaupt einer persischen Großfamilie sein«, heißt ein Kapitel. Hier ist die Realität aus anderen Bausteinen errichtet, das Zufällige wirkt konstruiert, das was herauszufinden alle Anstrengung gilt, längst entschieden. Am Ende bleibt Ana Rupert verloren, war vielleicht nie mehr als ein Gekräusel in der Unschärfe des Gegenlichts, im großen Leuchten. »Leben, darin liegt kein Glück«, heißt es bei Milan Kundera, »Aber sein, sein ist das Glück: Sein: sich in einen Brunnen, ein steinernes Becken verwandeln, in das wie warmer Regen das Universum fällt.«
Andreas Stichmann: »Das große Leuchten«. Rowohlt, Reinbek 2012. 235 S., 19,95 Euro
Lesung am 15. Juni 2013 im Zakk, Düsseldorf