TEXT: GUIDO FISCHER
Rabelais’ Vielfraß Gargantua hätte sich bei dieser Bootsfahrt begeistert den Wanst gerieben. Der lombardische Passagier steuert Kutteln und Käse bei und der Genueser gesalzenen Fisch und Fenchel. Neben Gnocchi und Makkaroni darf guter Wein nicht fehlen. Versammelt hat die ausgelassene Gesellschaft ein Komponist, dessen Spitzname tatsächlich »Il Fasolo« war – die Bohne! Bis heute konnte seine Identität nicht gelüftet werden. Seine neapolitanisch beschwingte Bergamasca »La Barchetta Passaggiera« gehörte aber zu den Schlagern, die im Venedig des 17. Jahrhunderts gerade zur Karnevalszeit geschmettert wurden.
Vor zehn Jahren hatte das Ensemble Le Poème Harmonique »Il Fasolo« ein ganzes Album gewidmet. Jetzt ist das italienische Barock-Phantom mit seinem kulinarischen Muntermacher wieder mit im Repertoire des französischen Alte Musik-Teams. Diesmal zieht es die Sänger und Instrumentalisten zurück in die erste große Blütezeit der Musikmetropole Venedig. Für die Stippvisite in Opernhäusern und auf Gassen wurden nicht nur Arien und Madrigale von Claudio Monteverdi und Zeitgenossen ausgewählt, sondern auch komödiantisch derbe Canzones.
Wie schon bei früheren Klangzeitreisen hat Ensemblegründer Vincent Dumestre zudem Regisseur Benjamin Lazar eingeladen, das Konzert »Venezia: dalli calli ai palazzo« im alten Stil einzurichten. Treffpunkt bei der NRW-Premiere zum Dortmunder KlangVokal-Festival ist ein nur von Kerzen und Lüstern illuminierter Saal. Das Licht, so Dumestre, erzeuge eine intime Atmosphäre, wie sie in den venezianischen Palästen damals herrschte. Außerdem hat Lazar als aktuell führender Spezialist der historischen Inszenierungspraxis Gestik und Mimik zu rekonstruieren versucht, mit der die Sänger sich einst in wahre Stimmschauspieler verwandelten.
So akribisch die Künstler an der aufführungspraktischen Authentizität arbeiten, entsteht ein Fest für Auge und Ohr. Aus »Le Bourgeois Gentilhomme« von Molière und Lully schufen sie ein barockes Gesamtkunstwerk-Spektakel samt Perückenpüppchen und Commedia dell’arte-Figuren. Mit solchen Coups ist es dem Kunsthistoriker und Lautenisten Dumestre gelungen, die Alte Musik-Szene aufzufrischen. Was er seit 1998 für sein Vokal- und Instrumentalmusik-Ensemble an Repertoire ausforschte, erwies sich als auszeichnungswert. Dazu zählten traumhaft schöne Airs de cour der Franzosen Charles Tessier und Anthoine Boesset, Messen des Italieners Vincenzo Ruffo sowie das volkstümliche Temperament des Spaniers Luis de Briceño.
Die Raritäten finden bei Kritik und Publikum gleichermaßen Anklang. Nahezu jede Einspielung erhielt einen Schallplattenpreis. Inzwischen wurden mehr als 150.000 CDs und DVDs verkauft, eine enorme Zahl für ein Sparten-Ensemble.
Für den Erfolg verantwortlich sind nicht zuletzt die von Dumestre sorgfältig ausgewählten Sänger. So ragt beim Venedig-Porträt einmal mehr die Sopranistin Claire Lefilliâtre heraus, von früh an Teil von Le Poème Harmonique. Wenn sie mit ihrem unvergleichlich dunklen Melos Monteverdis »Lamento della Ninfa« in seelenvollen Liebesleidensgesang verwandelt, steht fest: Sie ist die Callas der Barockmusik.
9. Juni 2013, Orchesterzentrum – NRW Dortmund; www.klangvokal-dortmund.de