TEXT: ANDREJ KLAHN
Schwarzer Anzug, glänzende Lackschuhe, perlgrauer Filzhut, Gesicht nach oben liegend. So hatte Weegee die ehrenwerte Gesellschaft am liebsten vor der Kamera. Meist war der Fotograf einer der ersten am Tatort, doch den entscheidenden Augenblick hatte er dann schon verpasst. Da hatten die Männer bereits mit von sich gestreckten Armen auf dem Pflaster Position bezogen, aus dem Hinterkopf den Bordstein vollblutend. Manchmal bekam Weegee nur noch ihre Schuhspitzen mit der Kamera zu fassen, während die Polizisten damit beschäftigt waren, den Leichnam vor den neugierigen Blicken der umstehenden Passanten unter einer New York Times zu verbergen.
So auch in jener Nacht im Jahr 1946, in der Weegee auf der Third Avenue in New York unterwegs ist. Auf dem Gehsteig liegt ein Körper, umgeben von Passanten, die dem Schauspiel mit wohlwollender Teilnahmslosigkeit beiwohnen. Am linken Rand der Aufnahme quetscht sich noch jemand ins Bild hinein. Im Fernsehen wäre das der Moment, in dem bei laufender Sendung Verwandte gegrüßt werden. Den zynischen Kommentar zur Szene liefert die ausgeschaltete Leuchtreklame des »Tudor Theatre«, die im Halbdunkel über den Köpfen der Gaffer das Programm des Kinos ankündigt: Irene Dunne in »The Joy of Living«. Der Betrachter dieses Fotos aber fragt sich, was eigentlich passieren musste im New York der 1940er Jahre, um die Bewohner dieser Stadt aus der Fassung zu bringen. Ein Toter reichte ganz offensichtlich nicht aus.
»Ich habe keine Hemmungen – und meine Kamera auch nicht«, schreibt Weegee, der 1899 als Usher Fellig im damals österreichischen, heute polnischen Zloczew zur Welt gekommen ist, in seiner 1961 erschienenen Autobiografie »Weegee by Weegee«. »Ich habe mein Leben ganz gelebt und alles ausprobiert.« Probiert hat Usher Fellig, den die Einwanderungsbehörde auf Ellis Eiland 1910 in Arthur Fellig umbenannt hat, tatsächlich eine ganze Menge, vor allem Jobs. Seine Lehrjahre zum »Self-made man« beginnen notgedrungen früh. Als Junge verschlingt er die Bücher des US-amerikanischen Schundliteraten Horatio Alger, der seiner sozialdarwinistischen Überzeugung in zahlreichen Groschenromanen Ausdruck verliehen hat. Sie spielen den amerikanische Tellerwäscher-Mythos immer wieder neu durch. Harte Arbeit wird im richtigen Leben aber nicht immer belohnt.
AM ANFANG STAND DER TELLERWÄSCHER
Diese Erfahrung muss auch der junge Arthur machen, der sich zunächst als Zeitungsjunge versucht, um den Eltern ein paar Cent dazu zu verdienen. Doch in der Lower East Side, wo die Familie unter ärmlichen Bedingungen haust, sind nur wenige des Englischen mächtig. Schon nach einer Woche steigt Arthur auf Süßwaren um, die er auf Pump beim Großhändler organisiert, um sie dann mit hundert Prozent Gewinn an die Näherinnen in den Kleiderfabriken zu verkaufen. Da war der Junge gerade mal in der fünften Klasse. Später wird Arthur Fellig, der zum wohl berühmtesten Pressefotografen der 1930er und 1940er Jahre werden sollte, als Tellerwäscher, Bonbonmischer, Biskuitbäcker und Konfektverkäufer sein Kleingeld verdienen, auch Telefonzellen sucht er systematisch nach vergessenen Münzen ab. Er wird auf Parkbänken nächtigen und in Nachtasylen unterschlüpfen – und dabei nie sein Ziel aus dem Blick verlieren: berühmt und wohlhabend zu werden.
Und: Fotos zu machen. Bleibt das Problem, wie sich das eine mit dem anderen verbinden lässt. Seine erste Geschäftsidee entwickelt Weegee noch bevor er seinen 18. Geburtstag feiert. Er zieht mit einem Pony und einer gebrauchten 13×18-Kamera durch die Stadt und fotografiert Kinder. Die Porträts verkauft er hinterher an deren Eltern. Die entscheidende Lektion lautet: Bilder können Gefühle manipulieren. »Die Leute liebten ihre Kinder über alles, und egal, wie arm sie waren, irgendwie brachten sie das Geld für meine Bilder zusammen. Die Photos zog ich auf dem härtesten Papier ab, das ich bekommen konnte, damit die Kinder schöne, kalkweiße Gesichter bekamen. Meine Kunden, meistens Italiener, Polen, Juden, sahen auf Photos am liebsten totenbleich aus.«
Ein Spezialist für Totenblässe ist Fellig dann auch geblieben, als er ab 1935 als freier Fotograf unter dem Namen Weegee firmiert und sich den Beinamen »the famous«, der Berühmte, zulegt. Doch bevor Fellig Zeitungen und Magazine mit seinen Bildern von Katastrophen, Morden und Unfällen beliefern wird, lernt er in der Dunkelkammer der gerade neu gegründeten Pressefoto-Agentur Acme Newspictures, wo er gut zehn Jahre arbeitet, worauf es ankommt im Handel mit Reportage-Bildern: Skrupellosigkeit und Schnelligkeit. Es sind die Jahre, in denen sich das Geschäft mit Nachrichten durch den verschärften Konkurrenzkampf der großen Presse-Konzerne in den USA beschleunigt. »Der Geruch von Entwickler und Fixierbad hatte etwas Berauschen-des«, sollte sich Fellig später an diese Zeit erinnern. Jedes Mittel war ihm recht. In der ihm eigenen Mischung aus Stolz und Großspurigkeit berichtet er, wie er die Glasplatten des Agentur-Fotografen in einem privaten Krankenwagen entwickelt, während der Fahrer mit Rotlicht und Sirene zum Büro der Telefongesellschaft in der Walker Street rast, von wo aus die Bilder quer durch das Land verschickt werden.
WEEGEE MEINT ETWAS HEXENHAFTES
»Quija-Board« wird die Alphabettafel genannt, mit deren Hilfe spiritistisch geneigte Menschen in die Zukunft zu schauen versuchen. In Anlehnung an dieses Hexenbrett verpassen Felligs Acme-Kolleginnen dem Laboranten, der auch immer mal wieder mit der Kamera raus darf, seinen legendären Spitznamen: »Weegee«. Fellig scheint über telepathische Fähigkeiten zu verfügen. Seine Aufnahmen sind meist schon entwickelt, noch bevor die Nachricht über den Ticker geht.
Den Künstlernamen hat Fellig also schon, als er sich zu Höherem berufen fühlt, 1935 bei Acme kündigt und fortan auf eigene Rechnung arbeitet. Ein Zauberer ist er nicht, wohl aber ein cleverer Geschäftsmann, der sich mit einer Mischung aus Unterwürfigkeit und Unverfrorenheit exzellente Kontakte in sehr unterschiedliche Milieus aufbaut. Weegee richtet sich nachts im Polizeihauptquartier von Manhattan ein, dem »Nervenzentrum« der Stadt, und kann häufig noch vor der Polizei am Tatort aufkreuzen. Er wird der erste Foto-Reporter sein, der ganz legal ein Polizeifunkgerät in seinem Wagen installieren darf. Ein Gerät, das seinem Leben »Halt und Orientierung« gibt. Seine Bilder von spektakulären Verhaftungen schmeicheln der Eitelkeit der Polizisten, zugleich ist Weegee den Ganoven ein Vertrauter, der ihnen Anwälte und Zigaretten besorgt. »Kein Verbrecher kam auf die FBI-Liste der zehn meistgesuchten Kriminellen, wenn er nicht vorher von Weegee photographiert worden war«, schreibt Fellig mit der ihm eigenen Unbescheidenheit über diese Zeit. Die Liste der Zeitungen, die er beliefert, ist lang: Sie reicht von den Daily News über die New York Post bis zur Herald Tribune; bei Vogue unterschrieb er 1945 einen Exklusivvertrag.
Weegee hält spektakuläre Brände und schwere Verkehrsunfälle fest, er lichtet Feuerwehrmänner ab, während sie versuchen, einen Selbstmörder zu retten; er fotografiert Kinder, die auf einer Feuertreppe schlafen, weil sie es in ihrer stickigen Wohnung nicht mehr aushalten, Transvestiten, Stripperinnen und natürlich jede Menge Leichen und Totschläger. Seine expressionistisch angehauchten Bilder verwandeln das gewalttätige New York der 1930er und 1940er Jahre in Stills aus einem »Film noir«. Weege sucht die tiefschwarze »Seele der Stadt« mit der Kamera. Seine Motive findet er in den moralfreien Zonen New Yorks, sie zeigen die Schmutzigen und Gemeinen und erzählen davon, was Männer passieren kann, wenn sie sich mit falschen Freunden einlassen.
Unter dem Titel »Naked City« versammelt Weegee 1945 Aufnahmen aus dieser Zeit. Nur folgerichtig ist, dass er den Titel des Buches, durch das er sich bei einem größeren Publikum bekannt gemacht hat, kurze Zeit später nach Hollywood verkauft. Er assistiert der Produktion, die unter dem Titel »Stadt ohne Maske« 1949 auch in deutschen Kinos anläuft, als Berater vor Ort. Der anschließende Versuch, sich in Hollywood als Schauspieler zu behaupten — Paraderolle: Stadtstreicher –, hat in der Filmgeschichte keine Spuren hinterlassen. Vielleicht wäre die Sache anders gelaufen, wenn Martin Scorsese ein paar Jahre früher zur Welt gekommen wäre.
FOTOTHEORIE INTERESSIERTE IHN WENIG
Rund 5.000 Mord-Fotos hat Weegee, der 1968 in New York gestorben ist, eigenen Schätzungen nach aufgenommen. Fotografiert wurde, was sich verkaufen ließ. Über Bild-Redakteure, die von Aufmacher-Bildern als »Kunst« sprachen, hatte Arthur Fellig nur Verachtung übrig. Was Edward Steichen 1948 nicht davon abhielt, sein Bild »The Critic« für die Ausstellung »50 Photographs by 50 Photographers« im Museum of Modern Art auszuwählen. Sie versammelte Meilensteine der Fotografiegeschichte, darunter Werke von Man Ray, Alfred Stieglitz, Eugène Atget, Edward Weston oder Ansel Adams. Weegee aber konnte wenig mit den Fotos der berühmten Kollegen anfangen. Theorie interessierte ihn nicht, technische Fragen bekümmerten ihn wenig. Die Wirklichkeit lieferte Weegee Storys, nicht Symbole. Keine komponierten, handwerklich brillanten Bilder wollte er machen, sondern direkt stimulierende, emotional aufgeladene und atmosphärisch dichte Schnappschüsse. Ihr Wert bemaß sich am Tageskurs, nach Gebrauch wurden die Bilder nicht etwa archiviert, sondern in einem Fass entsorgt. So zumindest geht die Legende.
Akribisch festgehalten hat Weegee hingegen seine Honorare. Ein Axtmord in Jersey bringt 75 Dollar, ein Kleinkrimineller in einem Revolverblatt fünf, so viel wie das Life Magazine pro Kugel im Körper einer Leiche zahlt. In Weegees Welt hat alles seinen Preis: Miet-Wohnungen, Musikunterricht, Prostituierte. Dieser brutale Materialismus schärft seinen Blick für die verkäufliche Realität. Zugleich hält Weegee kritische Distanz zu denen, die sich alles leisten können. Wie in seinem »The Critic« betitelten Bild, aufgenommen im November 1943 vor der Metropolitan Opera, die an diesem Abend ihr 60-jähriges Jubiläum feiert. Zwei absurd glamourös herausgeputzte, wohlhabende alte Schachteln, Mäzeninnen des Hauses, schreiten in teuren Pelzmänteln dem Eingang entgegen. Plötzlich taucht eine ärmlich gekleidete Frau neben ihnen auf, Handtasche krampfhaft an den Körper gedrückt, als seien darin alle ihre Habseligkeiten. Das ist der Moment, in dem Weegee auf den Auslöser drückt und das wohl meistabgedruckte Bild seiner Karriere macht. Ein Foto, das einen dieser seltenen Momente festzuhalten scheint, in dem sich die Wirklichkeit dem Fotografen als gesellschaftskritische Choreografie darbietet.
Merkwürdig nur, dass auch die etwas verrutschte Dame vor die Oper chauffiert worden war. Von Weegees Assistentin Louie Liotta, die die Frau in einem Nachtclub aufgegabelt und vorher mit billigem Fusel abgefüllt hatte. Anders aber als die Herren in den schwarzen Anzügen, glänzenden Lackschuhen und perlgrauen Filzhüten sollte sie sich möglichst viele Belichtungen lang auf den Beinen halten.
»Weegee – The Famous«, Ludwig Galerie Schloss Oberhausen; vom 26. Mai bis 8. September 2013. Tel.: 0208/412 49 11. www.ludwiggalerie.de