TEXT: GUIDO FISCHER
Als das Huelgas Ensemble 2006 seinen 35. Geburtstag beging, feierte man den noch standesgemäß mit Meisterwerken der Renaissance. Fünf Jahre später dachte sich der Alte Musik-Spezialist Paul Van Nevel zum nächsten Jubiläum seines Vokalensembles etwas Ausgefallenes aus. Der Zigarrenraucher ließ seine Sänger jahrhundertealte Loblieder auf den dicken Tabak-Bruder der Zigarette singen. Im Booklet der CD »The Art of the Cigar« kamen prominente Raucher von Baudelaire bis Groucho Marx zu Wort. Ein Satz von Franz Liszt gefällt van Nevel besonders, da er auch etwas von ihm als Künstler erzählt: »Eine gute Zigarre verschließt die Tür vor den Niederungen des Lebens.«
Tatsächlich genießt es Van Nevel, bei einer Zigarre gut und gern nachzudenken. Auch für seine Arbeit schottet er sich komplett von der Außenwelt ab, schließt sich etwa in seiner Musikbibliothek ein, um über unbekannte Komponisten des 15. und 16. Jahrhunderts zu schreiben. Oder er reist durch Europa, um in die Tiefen unentdeckter Notenarchive einzutauchen. Als »Hercule Poirot der Alten Musik« wurde der Belgier deswegen schon mal bezeichnet.
Auf Van Nevels detektivischen Spürsinn ist seit vier Jahrzehnten Verlass. Vor allem in der für die Musikgeschichte bahnbrechenden franko-flämischen Vokalmusik hat er Pionierarbeit geleistet. Mit Ausgrabungen von Madrigalen und Motetten etwa von Nicolas Gombert, Josquin Desprez und Jacobus de Kerle. Selbst anhand des kaum bekannten Renaissance-Komponisten Costanzo Festa bewies der Dirigent mit seinem Huelgas Ensemble, was für sinnbetörende Leuchtfarben noch aus der verzwicktesten Kontrapunktik zünden können. Dank solcher Entdeckungen, die traumwandlerisch makellos in Intonation und Textverständnis zum Klingen gebracht werden, festigt das Huelgas Ensemble seinen Spitzenplatz in der Alte Musik-Szene.
Van Nevels Beschäftigung mit der Musik des Mittelalters und der Renaissance geht gewissermaßen auf eine Trotzreaktion zurück, mit der er gegen den Geschmack seines Vaters rebellierte. »Wenn der Vater ein Wagner-Fan ist, kann man sich sicher sein, dass der Sohn keiner wird«, stellt er rückblickend klar. Er schrieb sich am Konservatorium in Maastricht ein, um bei einem der besten Kenner der Alten Musik zu studieren. Das einschneidendste Erlebnis jedoch hatte Van Nevel 1970 mit 24 Jahren. Im spanischen Zisterzienserinnen-Kloster Santa Maria la Real de las Huelgas durfte er sich zwei Wochen in Klausur begeben, um sich mit überlieferten Notenmanuskripten zu beschäftigen. Nachdem er den Ordensschwestern sogar Passagen vorgesungen hatte, die seit Jahrhunderten verstummt waren, stand sein Weg fest. In Erinnerung an diese Zeit gründete er ein Jahr später sein Vokalensemble und benannte es nach dem Kloster Huelgas.
Seither haben sie etwa 50 CDs aufgenommen, von denen viele mit Schallplattenpreisen ausgezeichnet wurden. Im Gegensatz zu den berühmten Landsleuten und Alte Musik-Kollegen René Jacobs und Philippe Herreweghe, die auch die Oper und Sinfonik des 19. Jahrhunderts für sich entdeckt haben, blieb Van Nevel der großen A cappella-Kunst treu. Mit dem Huelgas Ensemble lädt er uns zu einer atemberaubend betörenden Klang-Reise zurück in die europäische Blütezeit des Madrigals ein, beginnendbei der franko-flämischen Polyfonie über Böhmen und Dänemark bis zum Italiener Michelangelo Rossi.
22. März 2013, Paterskirche / Kulturforum, Kempen.