TEXT: ANKE DEMIRSOY
Alles beginnt mit ein paar einfachen Fragen. Was wollt ihr machen? Was beschäftigt euch? Die meisten Schüler wissen darauf zunächst keine Antwort. Nur zögernd weicht die Ratlosigkeit den ersten Wortmeldungen. Die Gedanken gelten zum Beispiel dem Spannungsfeld zwischen realer und virtueller Welt, das die meisten Jugendlichen jeden Tag erleben. Oder dem menschlichen Lachen, das seinen individuellen Klang und Rhythmus hat. Manchmal auch Entsetzlichem wie der Dreifach-Katastrophe von Japan: Erdbeben, Tsunami, Reaktor-GAU.
Sind die Themen erst einmal gefunden, lassen sie sich auch künstlerisch umsetzen. Beim Kompositionsprojekt »Haste Töne? So klingt Schule!« geschieht dies naturgemäß mit den Mitteln der Musik. Namhafte zeitgenössische Komponisten wie Oxana Omelchuk, Stefan Hakenberg oder Gerhard Stäbler helfen den Schülern dabei, eigene Stücke zu schreiben, die dann von Profimusikern einstudiert und schließlich in den großen Konzertsälen der Region aufgeführt werden. Zur ersten Abschlusspräsentation am 24. Juni 2011 kamen mehr als 300 Besucher ins Konzerthaus Dortmund. Gut drei Stunden lang folgten die Zuhörer den klingenden Experimenten im Reich der Neuen Musik, unter ihnen auch Intendant Benedikt Stampa sowie Christian Esch, Direktor des NRW Kultursekretariats.Dessen Haus hatte das Projekt im Jahr 2010 ins Leben gerufen. Pro Projektjahr steuert das Institut rund 65.000 Euro bei; der Landesmusikrat NRW stellt weitere 9.000 Euro sowie jeweils einen Klangkörper zur Verfügung, der die neuen Werke zur öffentlichen Uraufführung bringt. Aktuell kooperieren das Theater Duisburg und die Duisburger Philharmoniker, die weitere Sachleistungen und Gelder einbringen.
BEIM KOMPONIEREN GIBT ES NICHT RICHTIG ODER FALSCH
Brigitta Muntendorf gehört zu den Komponisten, die bei der zweiten Phase von »Haste Töne?« mitmachen. Werke der 31-Jährigen wurden bereits beim Kölner »Acht Brücken«-Festival und bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik aufgeführt. Nun hilft sie Schülern dabei, ihre Klangvorstellung in Worte zu fassen und eine Partitur zu erstellen. »Viele haben erstaunliche genaue Vorstellungen von dem, was sie hören möchten«, berichtet sie. Dass es beim Komponieren kein Richtig oder Falsch gibt, sondern nur Entscheidungen und daraus folgende Konsequenzen, sei für die meisten eine neue Erfahrung. Mit der Zeit weichen die Ängste. Dann kann die Kreativität fließen. Ob Happening oder Aktionsmusik, Videoinstallation oder Performance, elektro-akustische Experimente oder Mischformen aus Zuspielbändern und Live-Musik: Die Ergebnisse sind nicht von Experten diktiert, sondern lediglich mit ihrer Hilfe in eine Form gebracht.
»Wir wollen nicht Neue Musik an die Schulen, sondern die Musik aus der Schule heraus in den Konzertsaal bringen«, sagt der Komponist, Dirigent und Pianist Markus Stollenwerk. Er betreut das Projekt, an dem sich derzeit zwölf verschiedene Schulen aus neun Städten beteiligen. Im Oberhausener Bertha-von-Suttner Gymnasium finden er und seine Partner nahezu ideale Bedingungen vor. Hier gibt es ein traditionsreiches Schulorchester, einen Schulchor, ein Bläserensemble, eine Trommelgruppe, eine engagierte Lehrerschaft, zahlreiche freiwillige Arbeitsgemeinschaften und Schüler, die zum Teil bereits sehr versiert auf ihren Instrumenten sind. Für »Haste Töne?« haben sich neun Gymnasiasten zwischen 14 und 18 Jahren angemeldet, unter ihnen die 18-jährige Melissa Tendick, die Geige spielt und sich womöglich bald für die Aufnahmeprüfung an eine der Musikhochschulen der Region anmeldet. Sie habe »Lust, zu experimentieren«, erklärt sie recht selbstbewusst, »einfach mal was Neues auszuprobieren.«
EINE MUSIK JENSEITS DER CHARTS
Zu Beginn versuchen fast alle Schüler, ihre Stücke ganz konventionell in C-Dur oder a-Moll zu schreiben. Aber bald spüren sie, dass diese Klänge nicht ausreichen für das, was sie sagen wollen. »Irgendwann enden alle in einer durchaus schroffen Klanglichkeit. Sie merken, dass diese Tonsprache sich einfach besser für sie eignet als eine Musik, die möglicherweise schon 200 oder 250 Jahre zurück liegt«, sagt Stollenwerk. Immer wieder hat er das seit Beginn des Projekts erlebt. Er freut sich, wenn die Teilnehmer völlig andere Klangwelten entdecken als die, die sie bisher kannten: eine Musik jenseits der Charts, jenseits von Tanzbarkeit und Verkaufszahlen. Neue-Musik-Fans wolle er aber nicht aus den Schülern machen, fügt er hinzu. Wie bitte? Ein Projekt, das auf die Vermittlung Neuer Musik zielt, soll die Schüler nicht für eben diese Spielart der Moderne begeistern wollen? »Nein«, entgegnet Stollenwerk fest. »Wir wollen das umsetzen helfen, was die Schüler wollen. Da können Hip-Hop-Elemente vorkommen, Neoklassizismus oder Punk. Und wenn sie unbedingt ein Stück im Stile von Beethoven schreiben wollten, dann würden wir sie auch dabei unterstützen.« Wen die Schüler zu ihrem »Kompositions-Coach« wählen, bleibt ihnen selbst überlassen.
Im Mai 2013 wird es ernst, zu dem Zeitpunkt sollen die Kompositionen fertig sein und die Proben für das Abschlusskonzert beginnen. Die Schüler können dann verfolgen, wie die Profi-Musiker ihre Werke erarbeiten. Für die meisten ist es ein regelrecht umwerfendes Erlebnis, wenn ein Dirigent auf sie zukommt und ganz ernsthaft fragt, wie eine bestimmte Stelle im Stück denn klingen soll. Oder wenn Profi-Musiker wissen möchten, wie sie bestimmte Töne artikulieren sollen. »Wie haben Sie sich das denn vorgestellt?«, fragen die Erwachsenen dann die Schüler. Ein Erlebnis, das sich den meisten tief einprägt: Selbst dann, wenn sie das Projekt insgesamt eher wie ein Spiel betrachten. Am 15. Juli 2013 werden die Duisburger Philharmoniker und das JugendZupfOrchester NRW die neuen Werke zur Uraufführung bringen. Das Konzert findet im Theater Duisburg statt.
EINE NEUE HALTUNG LERNEN
Wie nebenbei lernen die Teilnehmer so einen Musikbetrieb kennen, mit dem sie bisher keine Berührung hatten. Wie proben Berufsmusiker? Wie funktioniert ein Konzerthaus? Die Frage, ob sie in ihrem späteren Leben zu regelmäßigen Konzertgängern werden, finden Markus Stollenwerk und Brigitta Muntendorf aber sekundär. Wichtiger ist ihnen, mit welcher Haltung der Hörer einem Stück begegnet. Wer darum weiß, wie schwer die Neue Musik ein Publikum findet, und je erlebt hat, wie Klassik-Liebhaber buchstäblich die Ohren zuklappen, sobald nur ein einziges modernes Stück auf dem Programm steht, der kann die fehlende Offenheit, ja die Voreingenommenheit des Publikums nur beklagen. Selbst Musik von Schönberg oder Webern, heute schon 100 Jahre alt, kämpft immer noch gegen Vorurteile und pauschale Ablehnung.
In Bezug auf die Klassik sind die meisten Projektteilnehmer bei »HasteTöne?« aber ein völlig unbeschriebenes Blatt. Ein großer Vorteil, wie Markus Stollenwerk findet. Wo die Hörerfahrung fehlt, gibt es auch keine Erwartungshaltung. Die gängigen Vorbehalte gegen die Neue Musik sind bei den Schülern deshalb schlicht nicht vorhanden. Brigitta Muntendorf kann das nur bestätigen. Wenn der Kompositionsprozess Formen annimmt und aus einer Klangvorstellung eine Partitur wird, erklärt sie ihren Schützlingen gerne beiläufig: »Das ist übrigens Neue Musik, was du jetzt da gemacht hast.« Dann sieht sie still vergnügt zu, wie die Augen vor Staunen groß und größer werden.
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K.WEST ist Medienpartner des NRW Kultursekretariats.