TEXT: ANDREJ KLAHN
Selbst im Missverstehen tut der Kindermund hier noch Wahrheit kund: »Blutung« nennt die naseweise Marie in Annika Scheffels Roman »Bevor alles verschwindet«, was dem Dorf, in dem sie mit ihren Eltern lebt, bevorsteht. Gemeint ist die bevorstehende »Flutung« des Tals. Der kleine Ort soll einem Energieprojekt der »Poseidon Gesellschaft für Wasserkraft« Platz machen. Die meisten seiner Einwohner sind schon dem Versprechen von wunderbaren Aussichten auf See und Zukunft erlegen, haben ihr Häuschen verkauft und sind den Hang hoch gezogen. Die Verbliebenen lockt weder das neuen Hallenbad noch das Gartenbaucenter oben. Dabei wissen sie, dass ihr Widerstand zwecklos ist. Das Kindergartenkind hat ungewollt recht: Der drohende Heimatverlust ist eine Wunde, die auch durch geräumigere Wohnzimmer nicht zu heilen ist.
Märchenhaft gespenstisch ist die Stimmung in »Bevor alles verschwindet« von der ersten Seite an. Aber nicht, weil die 1983 in Hannover geborene Scheffel in ihrem zweiten Roman die Kulissen einer Geister-siedlung aufbaut. Was Scheffel interessiert, sind die Dämonen, die die seltsam alterslosen Einwohner in ihren Tagträumen heimsuchen und sich aus uneingelösten Hoffnungen und enttäuschten Erwartungen nähren. Nach innen richtet sich Scheffels Blick, wenn sie zwischen den Geschwistern Jules und Jula, deren Eltern Eleni und Jeremias, dem Laiendarsteller Robert und seiner Frau Clara, der Dorfärztin oder ihrer Tochter Marie hin und her zoomt und die verbleibenden Monate bis zum Abriss der Häuser in kurzen Szenen herunterzählt. Dabei erkundet Scheffel psychische Grenzregionen, in denen Wirklichkeit, Wunsch und Wahn ununterscheidbar werden und Sehnsüchte ins Pathologische kippen.
Mit der Ankündigung seiner drohenden Überflutung ist im Dorf die »Schräglage zum Normalzustand« geworden. Plötzlich wird den Einwohnern bewusst, dass sie länger schon durch das Leben taumeln. Alles scheint sich aufzulösen: Dorfgemeinschaft, Familien, Lebensentwürfe – und die Persönlichkeiten. So wie die des Bürgermeisters Martin Wacholder, dessen Frau Anna vor 20 Jahren aus dem Dorf abgehauen ist, ohne ihm zu sagen wohin. Dagelassen hat sie den gemeinsamen Sohn David, und damit der es seiner Mutter nicht gleichtut, wird der mittlerweile 26-Jährige von seinem verlustangstgestörten Vater im Suff wahlweise eingesperrt oder grün und blau geschlagen. Mit der Rückkehr seiner Frau, daran hält »Wacho« sich fest, sei nun täglich zu rechnen.
Wacholder ist nicht der einzige, dessen Gegenwart in diesem grandios beklemmenden Roman von der Vergangenheit geflutet wird, lange bevor das Wasser kommt. Der alten Greta, die als »Herrscherin über den Friedhof« wacht und jedes Jahr das Kreuz auf dem Kirchturm blank putzt, begegnet der verstorbene Mann wieder; und manchen Dörflern erscheint Milo, ein hagerer, von einer Narbe gezeichneter junger Mann, den nicht alle sehen können – das ausgezehrte Phantom einer Erlösungsfantasie.
Mit »BEN«, veröffentlicht 2010 im kleinen, feinen, auf deutsche Gegenwartslyrik spezialisierten Berliner Verlag Kookbooks, hatte Annika Scheffel ein großes Versprechen abgegeben. Denn mit ihrem Debüt-Roman deutete die in Berlin lebende Autorin an, dass sie die seltene Rezeptur kennt, mit der sich das Realitätsprinzip auf sehr eigensinnige Weise aus den Angeln heben lässt. Schon »BEN« wirkt in seinen gelungenen Momenten geradezu bewusstseinserweiternd, da nimmt man selten auftretende Nebenwirkungen wie Kitsch und Manierismus gerne in Kauf. Mit »Bevor alles verschwindet« löst Annika Scheffel eben dieses Versprechen nun ein: mit einer Geschichte von bezaubernder Traurigkeit, in der ihr das bemerkenswerte Kunststück gelingt, eine sich auflösende Welt zusammenzusetzen.
Annika Scheffel: «Bevor alles verschwindet«; Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, 411 Seiten, 19,95 Euro
Lesung zusammen mit Tilman Rammstedt am 7. März 2013 in der Kulturkirche Köln im Rahmen der Lit.Cologne