TEXT: GUIDO FISCHER
Als Gidon Kremer 1975 in München sein erstes Konzert in Westdeutschland gab, war die Spannung und Aufmerksamkeit enorm. Seit seinem Gewinn des Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerbs galt der Schüler von David Oistrach als neue sowjetische Violin-Sensation. Doch statt die Erwartungen nun etwa mit Beethoven-Sonaten zu erfüllen, spielte Kremer bis auf die große Bach-Chaconne ausschließlich Raritäten und Abseitiges. Auf eine »Elegy« von Igor Strawinsky folgte Max Reger. Zudem zündete er ein irrwitziges Feuerwerk mit einem Variationswerk des kaum bekannten Paganini-Kollegen Heinrich Wilhelm Ernst. »Debüt eines genialischen Geigers«, titelte danach die Süddeutsche Zeitung.
Dass Kremer sich mit einem derart wenig alltäglichen Programm vorstellte, war durchaus ein Wagnis. Andererseits brachte er damit bereits selbstbewusst jenes künstlerische Selbstverständnis zum Ausdruck, von dem er bis heute nicht abrückt. »Ich akzeptiere nicht den risikolosen Hörer«, gilt für ihn nach wie vor. Das Publikum mit Ungewohntem herauszufordern, statt es mit dem immer gleichen Pflicht- und Glanzrepertoire in vertrauter Sicherheit zu wiegen, ist Kremers Antrieb und Motor seines produktiven Unruhezustands. Selbst wenn er einen Klassiker wie das Violinkonzert von Beethoven spielt, greift er nicht zur gängigen Solo-Kadenz von Fritz Kreisler, sondern zu der seines 1998 verstorbenen Freundes Alfred Schnittke.
In knapp vierzig Jahren hat der gebürtige Lette mit deutschen Wurzeln sich einen Werkkatalog erarbeitet, der seinesgleichen sucht. Bachs sechs Solo-Violin-Meisterstücke stehen neben einem feingliedrigen Riesenparcours, mit dem Luigi Nono ihn auch spieltechnisch in unbekannte Grenzregionen zwischen Stille und Nicht-Stille schickte. Die für ihn komponierten Violinkonzerte reichen von John Adams’ fleischigem Minimalismus über Retro-Romantisches von Hans Werner Henze bis zur spirituell aufgeladenen Mikrotonalität der Russin Sofia Gubaidulina. Nimmt man noch die Kammermusik-Exkursionen hinzu, die er mit treuen Weggefährten wie Martha Argerich und Mischa Maisky antritt, komplettiert sich das Bild vom musikalischen Enzyklopädisten und Überraschungstäter.
Dass Neugierde der eigentliche Wesenszug des 65-Jährigen ist, hat mit seiner Herkunft zu tun. Vor seinen ersten West-Konzerten wurde er wie viele Musikerkollegen hinter dem Eisernen Vorhang unter Verschluss gehalten und durfte nur in den sowjetischen Bruderstaaten gastieren. Als er ein Jahr nach seiner Ausbürgerung 1980 im österreichischen Lockenhaus eines der renommiertesten Kammermusikfestivals gründete, setzte er sich in den Programmen bald für jene Komponisten ein, die im sowjetischen Musikleben eher ein Schattendasein fristeten. Fortan machte Kremer auch mit seiner 1997 gegründeten Kremerata Baltica die Musik etwa des Esten Arvo Pärt, des Georgiers Giya Kancheli oder des Ukrainers Valentin Silvestrov bekannt. Ihre Werke, die meditative Züge mit einer von östlicher Folklore-Tradition beeinflussten Melancholie verbinden, sind zwar in Neue Musik-Zirkeln nahezu tabu. Doch für Kremer war schon immer weniger die musikalische Form wichtig als ihr Gehalt. Gerade bei den genannten Komponisten findet er jene nostalgischen Züge wider, die ihn auch bei Schubert, Mahler oder Astor Piazzolla faszinieren.
Abseits zeitgenössischer Moden komponiert auch der Russe Victor Kissine, mit dem Kremer ebenfalls lange zusammenarbeitet. So hat er 2010 das ihm gewidmete, aus oszillierenden Klangfäden bestehende Klaviertrio »Zerkalo« erstmals eingespielt. Für Kremers aktuelle Aufnahme »The Art of Instrumentation«, eine Hommage an den Bach-Pianisten Glenn Gould, steuerte Kissine eine trauertrunkene Streicher-Aria bei. Bei ihm gebe es keine überflüssigen Noten, sagt Kremer: »Und doch steckt in seinen Partituren alles, was zum Geist seiner Klangwelt gehört. Er ist ein geheimnisvoller Komponist.« Für Kremer entstand nun ein neues Violinkonzert, das Ende letzten Jahres in Brüssel unter Leitung von Andrey Boreyko aus der Taufe gehoben wurde. Zusammen mit den Düsseldorfer Symphonikern präsentieren jetzt Kremer und Boreyko Kissines 2. Violinkonzert als deutsche Erstaufführung. Wenngleich, so der Komponist, darin manch geheime Briefbotschaften stecken, muss der Zuhörer sie nicht kennen. »Denn die eigentliche Geschichte hinter der Musik wird Gidon Kremer erzählen.«
Gidon Kremer und die Düsseldorfer Symphoniker unter
Andrey Boreyko spielen Werke von Wagner, Kissine und Bruckner:
19., 21. und 22. April 2013, Tonhalle, Düsseldorf; www.tonhalle.de