TEXT: REGINE MÜLLER
Die Dramaturgie ist perfekt. Für seine letzte Premiere am Aalto-Theater hat Stefan Soltesz ein Abschiedswerk gewählt. »Parsifal« bildet zugleich den Höhepunkt des Wagners-Jahres am Essener Opernhaus, dessen Spielplan ohnehin schon gut gefüllt ist mit exzellenten Wagner-Produktionen, und krönenden Abschluss von Soltesz’ bedeutender Ära. Als GMD und Intendant in Personalunion hat er das Haus weit nach vorn gebracht, das Orchester zum famosen Klangkörper geformt und Mut zum Engagement sperriger Regisseure bewiesen. So auch beim »Parsifal«: frenetischer Beifall für Soltesz’ superbe Leistung, harsche Buhs für Joachim Schloemers Klischees meidende Regie. Seinen letzten Wagner hier geht Soltesz ruhig und abgeklärt an, behält dennoch ein singend flüssiges Tempo bei und führt die Philharmoniker eisern am Zügel. Der Klang bleibt schlank, nuancenreich, sängerfreundlich transparent und federnd ohne Kraftmeierei, makellos verzahnt sind selbst die in Balance- und Koordinationsfragen schwierigsten Stellen. Besser hört man das derzeit nirgends.
In Schloemers Deutung steht das Leiden des Amfortas quälend im Mittelpunkt: Ein halbverglaster Container beherbergt eine Intensivstation, in der schon zur Ouvertüre eine Zeitschleife einsetzt. Amfortas reißt sich von den Schläuchen los, robbt zur Glaswand, zieht sich hoch und hinterlässt zusammenbrechend eine Blutspur jener Wunde, die sich nicht schließen will. Dann eilt das Personal herbei und verkabelt den moribunden Gralskönig erneut. In immer schnellerem Tempo wiederholt sich das Spiel; selbst im zweiten Klingsor-Akt schwebt der Container drohend über dem nur angedeuteten Zauberschloss. Wenn Parsifal sich im Verführungsspiel des Amfortas’ Wunde erinnert, öffnet sich oben im Container der grüne Vorhang.
Schloemer spielt mit Assoziationen und (modernen) Mythen und unterläuft bockig die Erwartungen. Der greise Titurel, sonst aus dem Off singend, steht hier als böser alter Mann in Militäroverall mit steifem Bein und spitzen Stock da und nestelt an Amfortas’ Verband. Dafür bleiben die Gralsritter unsichtbar und singen vom dritten Rang oder von der Seitenbühne. So erspart Schloemer sich Massenchoreografien. Nur am Ende lässt er eine Hundertschaft von Ruhrgebietsbürgern in Alltagskleidern am enthüllten Gral (eine Leuchtkugel in der Hand eines kleinen Jungen) entlang prozessieren. Wie E.T. war der kleine Mensch im ersten Akt verborgen unter einem Mantel, nun zeigt er sich vielleicht als Christus-Reminiszenz oder als kindlicher Dalai Lama.
Kundry (Jane Dutton) hat ein tänzerisches Alter Ego (Yara Hassan), das stellvertretend giert, zuckt und leidet und nach der Taufe entseelt entschwebt. Das Endzeitszenario des dritten Aktes erinnert mit vom Schnürboden fallenden Kleidungsstücken an die eindrückliche Ruhr-triennale-Installation »Nächte unter Tage« von Christian Boltanski und Andrea Breth – und an den Weltenbrand der »Götterdämmerung«. Viele Schlüsselszenen löst Schloemann mit grandiosen Bildern; als Choreograf gelingt es ihm, die Figuren unter Spannung zu halten, ohne Charaktere klar zu entschlüsseln. Woher sie kommen, wohin sie gehen, man weiß es nicht – was Wagner durchaus enstspricht.