TEXT: NICOLE STRECKER
Manchmal kann ihm offenbar alles zur Inszenierung zu werden, auch ein Gespräch über die Kunst. Als Wim Vandekeybus im Jahr 2002 bei PACT Zollverein mit seiner Produktion »Blush« gastiert und dazu ein Interview geben soll, macht er das Frage-Antwort-Spiel nicht so ohne weiteres mit. Er taxiert sein Gegenüber und stellt Gegenfragen, bewegt sich irritierend, redet vieldeutig, auch ein bisschen anzüglich, bis geschieht, was geschehen soll: Schamesröte kriecht langsam durchs Gesicht – und man erfährt am eigenen Leib, worum es in seiner aktuellen Produktion »Blush« geht. Pädagogisch und provokant – eine Begegnung mit ihm wird man nicht vergessen: Wim Vandekeybus, ein abgefeimter Psychologe und Spieler, und offenbar einer, der viel dafür tut, dass er sich selbst nicht langweilt. Beste Voraussetzung für die Kunst.
Das Erröten – es dürfte wohl so etwas wie ein Idealthema für den Flamen gewesen sein. Seit jeher interessieren ihn, der eigentlich Fotografie, aber eben auch ein bisschen Psychologie studiert hat, die unbewussten Regungen im Menschen. Die Momente, wenn die rationale Kontrolle versagt und der Mensch sich selbst, seinen Instinkten und Affekten ausgeliefert ist – sie haben seinen berühmten »Stuntmen-Tanz« geprägt: Bewegungen, direkt aus dem Zentrum des Körpers kommend, brachial und jenseits jeder ästhetisch-strukturierten Form. Das furiose Herumschleudern von Objekten, seien es Ziegelsteine, Speere, auch prall gefüllte Müllsäcke flogen schon in Richtung Publikum, alles duckte sich, aber die Säcke hingen dann doch an Schnüren. Kein Survival-Training kann härter sein, als die Arbeit bei Vandekeybus’ Kompanie Ultima Vez. Nur Präzision und hochgespannte Aufmerksamkeit bewahren seine Tänzer vor Unfällen.
Jedes seiner Stücke hat diese einprägsamen Spektakel-Momente. Dazu gefühlsstarke Rock- und Popmusik von Künstlern wie Marc Ribot, David Byrne oder David Eugene Edwards – so steht das Label ›Vandekeybus‹ auch für die Fusion von zeitgenössischem Tanz und E-Gitarre. Aber der ewige Rebell bedient nicht nur sein Publikum. Er beutelt es gern zwischen Faszination, Widerwillen und Amüsement herum. Traktiert es auch schon mal mit nicht enden wollender Hysterie. Mit Kinderschändung, Mord und anderen Grausamkeiten. Mit bizarren Geschichten, bei deren Volten man kaum noch mitkommt, einer Parforce-Tour durch Mythen, Filmplots, Dramen, Albträume, Biografisches.
Alles nur geklaut. Alles gestohlen, gezogen und geraubt. »Booty Looting« – so der Titel seines aktuellen Stücks. Vandekeybus plündert die Beute anderer. Nicht erstaunlich: Denn auch wenn er selbst einen ganz eigenen Stil begründete, der heute 50-Jährige ist doch ein postmodern Sozialisierter. 1986 gründet er nach ein paar Erfahrungen als Performer bei Landsmann und Künstler-Kraftprotz Jan Fabre seine eigene Kompanie Ultima Vez und landet mit seinem Debüt »What the Body Does Not Remember« gleich einen Welterfolg. Damals war das ›Zitieren‹ als Formprinzip in Mode gekommen. Mythen-Mashups, Cover-Ästhetik, Collagier-Technik. Seit einiger Zeit ist ›copy-and-paste‹ ein bisschen in Verruf geraten – da wendet sich die Tanzszene ganz offen zur Historie hin und erfindet sich ein neues Trendwort: das Re-Enactment. Immer wieder begegnet man derzeit alt-neuen Nijinskys, Ausdruckstanz-Ikonen – auch Pina Bausch würde man jetzt schon re-enacten, wäre da nicht der Widerstand der Wuppertaler Kompanie, die das selbst noch eine Weile tun will.
»Let’s re-enact Beuys« lautet nun die Devise zu Beginn von Vandekeybus’ neuer, in der Kölner Expo 1 präsentierten Produktion. Performer Jerry Killick gibt sie aus, der begnadete Conferencier des Abends. Und er verheißt eine zwar kürzere, dafür aber gefährlichere und extremere Version des berühmten Happenings »I like America and America likes Me«, für das sich Joseph Beuys 1974 drei Tage lang mit einem Koyoten in einen Käfig sperrte. Damals bewachte, so behauptet Killick jetzt, ein Mann mit Gewehr außerhalb des Gitters den Künstler. Im Beuys-Re-Enactment gibt es nun keinen Schützen, auch keinen Koyoten, aber vier Ultima-Vez-Tänzer – und die sind, so will es das ›Wilde-Wim-Klischee‹, bekanntermaßen animalisch: ungezähmt, verrückt, Exzess-verliebt. Großartig, wie Vandekeybus hier aktuelle Urheberrechtsdebatten und die Moden der Tanzszene ironisiert, wie eben auch die allzu eindimensionale Rezeption seiner Kunst.
Die Szene bleibt ein nicht weiter ausgeführter »Prolog«. Denn im Folgenden wird Vandekeybus seine Dekonstruktion der Dekonstruktion auf einen großen Mythos konzentrieren: Medea. Wie viele Male musste sie schon ihre Kinder umbringen, wie viele Schmerzensschreie ausstoßen, wie viele Mordtechniken erproben? Jede weitere Bluttat kann nur noch Kopie sein – so inszeniert Wim Vandekeybus die Kindstötung gleich auf dem Kopiergerät: Die Kölner Schauspielerin Birgit Walter als eine durch die Zeiten und Geschichten mäandernde Medea-Figur presst dann die Köpfe von drei Tänzern auf die Glasfläche des Geräts, und die Bilder der gequetschten Gesichter werden auf eine Leinwand an der Bühnenrückseite projiziert. Vom Verbrechen bleibt ein Foto. Ein Fake. Und das ist das zweite große Thema dieses Abends: Die Verbindung von Wahrheit und Lüge des vermeintlich dokumentarischen Mediums. Denn mit auf der Bühne agiert der belgische Rock-Fotograf Danny Willems. Er fotografiert live, ihm gelingen fantastische Bilder von fliegenden Tänzern oder entstellten Gesichtern und: jede Menge Lügenbilder. Fotos, bei denen der Hintergrund mit künstlichen Mitteln und Settings so verändert wurde, dass man sich tatsächlich in eine andere Zeit und Szenerie versetzt fühlt.
Die Aussage über die Illusion der Bilder mag altbekannt sein – die Handhabung des Mediums allerdings ist grandios. Und so ist es eigentlich seit jeher bei Wim Vandekeybus. Wann immer er eine neue Technik auf seiner Bühne ausprobiert, setzt er neue Maßstäbe. In einer Zeit, als auf so ziemlich jeder Tanzbühne eine Leinwand stand, fand man auch bei Vandekeybus eine. Nur blieb sie bei ihm nicht einfach Projektionsfläche, sondern wurde ganz wörtlich: Tanzfläche. Ihr Bild zeigte eine idyllische Unterwasserlandschaft. Die Performer rannten auf sie los, sprangen tatsächlich durch sie hindurch (die Schlitze hatte man vorher gar nicht bemerkt) – und landeten als Projektionen ihrer selbst im Wasser. Im Sprung durch die Leinwand wurde aus einem Körper ein Bild.
Technisch also state of the art. Thematisch aber existenziell. Liebe, Tod, Krieg, Katastrophen – vor allem die ganz großen Menschheitsthemen haben es Vandekeybus bisher angetan. In »Booty Looting« nun, seiner dritten Kooperation mit dem Kölner Schauspielhaus, will er, so scheint es, über seinen eigenen Wutschmerz, über die Gier der Zuschauer nach den furiosen Apokalypsen auch mal spötteln und sie als das entlarven, was sie sind: eine kunstvoll inszenierte Manipulation. Aber selbst ein zynisches Spiel über unsere Faszination am Fake bedeutet auf einer Vandekeybus-Bühne noch immer: eine grandiose Verschwendung von Leidenschaft.
13. und 14. April sowie 13. bis 15. Juni 2013 in der Expo 1. www.schauspielkoeln.de